Spätestens seit George Bush senior das Jahrzehnt des Gehirns ausgerufen hat, halten wir das größte Organ in unserem Kopf für den Sitz unserer Psyche – und natürlich auch ihrer Störungen. Das Gehirn spielt angeblich die Hauptrolle in unserem Seelenleben.
Dass an dieser Darstellung etwas grundlegend nicht stimmen kann, hat der Liechtensteiner Psychopharmakologe Felix Hasler bereits in seinem ersten Buch Neuromythologie dargelegt. Als jemand, der selbst in diesem Feld forscht, kennt er all die Fallstricke, über die man stolpert, wenn man versucht, komplexe psychische Vorgänge auf einfache physische Formeln zu bringen. Bei den meisten Befunden, die Hasler sich zum Thema Psyche und Gehirn anschaute, lieferte die Wissenschaft wenig Schlüssiges oder gar Nullbefunde.
Was über die Rolle des Gehirns in den Medien zu hören war, waren meist Mythen. Sie entstanden aus der Hoffnung, die unklare Befundlage werde bald den Blick auf die Arbeit der Psyche freigeben. Diese Hoffnung hatte sich im Jahr 2013, als Neuromythologie erschien, nicht erfüllt.
Psychische Hilfe braucht viele Perspektiven
Jetzt hat Hasler mit Neue Psychiatrie. Den Biologismus überwinden und tun, was wirklich hilft nachgelegt. Er bringt die Leserinnen und Leser darin auf den neuesten Stand der Entdeckungen der Neurowissenschaften. Egal welchem Gebiet Hasler sich dabei zuwendet – seien es Kandidatengene oder neue Medikamente –, er findet nur wenig Vielversprechendes, dafür so manch Erschreckendes: So lässt sich nach neuesten Erkenntnissen der Substanzverlust im Gehirn schizophrener Menschen, der lange als Auslöser ihrer Probleme galt, auf die Einnahme von Medikamenten zurückführen. Tatsächlich, so stellt er fest, sind auch inzwischen die Pharmafirmen aus der Entwicklung neuer Substanzen ausgestiegen.
Neue Psychiatrie ist jedoch mehr als ein Update seiner kritischen Vorarbeiten. Diesmal will Hasler über die aus seiner Sicht kaum noch zu rettende biologische Psychiatrie hinaus. Die Zukunft sieht er bei der Sozialpsychiatrie. Hier wird das soziale Umfeld, in dem eine Störung entstanden ist und später behandelt wird, zentral.
Beispielhaft schildert er das Soteria-Projekt, in dem Schizophrene in Wohngruppen eng betreut werden und dabei keine oder nur sehr wenige Medikamente erhalten. Die Studienergebnisse konnten überzeugen. Das könnte zum Vorbild für eine neue Psychiatrie werden. Sie soll im offenen Dialog mit den Betroffenen und ihren Angehörigen weiter Ratgeber sein, aber eben nur als eine von vielen Stimmen.
Kritische Bücher zur Psychiatrie gibt es derweil viele. Hasler geht in Neue Psychiatrie einen Schritt weiter und beschreibt eine alternative Zukunft, in der Menschen mit psychischen Problemen durch die Zusammenschau vieler unterschiedlicher Perspektiven geholfen wird. Dass es ihm dabei gelingt, hochkomplexe neurowissenschaftliche Befunde gewitzt auf den Punkt zu bringen, macht das Buch zudem noch ausgesprochen unterhaltsam.
Felix Hasler: Neue Psychiatrie. Den Biologismus überwinden und tun, was wirklich hilft. Transcript 2023, 256 S., € 25,–