Frau Prof. Heimes, was versteht man unter „Poesietherapie“?
Der Begriff der Poesietherapie ist dem amerikanischen poetry therapy entlehnt und umfasst alle Bestrebungen, die das Schreiben als therapeutisches Mittel einsetzen. Dabei ist mit Poesie viel mehr als nur Lyrik gemeint. Denn das aus dem Griechischen stammende poiesis ist nicht lediglich ein Gattungsbegriff, sondern bezeichnet zugleich eine Qualität des Erlebens, die man mit Achtsamkeit in Verbindung bringen könnte. Schreiben und Wahrnehmung befinden sich in einem ständigen Wechselverhältnis, und ein achtsames Wahrnehmen sowohl der Außen- als auch der Innenwelt stellt eine unabdingbare Voraussetzung fürs Schreiben sowie den Prozess der Selbstwahrnehmung und Erkenntnis dar.
Für wen eignet sich das therapeutische Schreiben?
Meiner Meinung nach steht das therapeutische Schreiben jedem offen, der aus Buchstaben Wörter bilden kann, die Grundregeln des Satzbaus beherrscht und fähig ist, etwas zu notieren. Man benötigt weder spezielle literarische Fähigkeiten noch Grammatikkenntnisse, um davon zu profitieren. Vielmehr ist in jedem Menschen ein sprachliches Ausdrucksvermögen vorhanden, das es ermöglicht, Gedanken und Gefühle in Worten auszudrücken und aufzuschreiben.
Worin unterscheidet sich Tagebuchschreiben vom therapeutischen Schreiben?
Zunächst möchte ich eine zentrale und für unser Thema wichtige Gemeinsamkeit herausstellen: Auch das Tagebuchschreiben kann therapeutisch wirken. Der zentrale Unterschied liegt vielleicht darin, dass man beim therapeutischen Schreiben den Fokus explizit auf den therapeutischen Aspekt legt, während das Tagebuchschreiben verschiedene Funktionen haben kann, wie etwa die einer Chronik oder Bilanz.
Zudem ist das Tagebuchschreiben in der Regel davon geprägt, dass man sich hinsetzt und über das schreibt, was man am Tag erlebt hat sowie die damit verbundenen Gedanken und Gefühle. Diese Art des Schreibens kommt auch bei dem therapeutischen Schreiben zum Einsatz, aber eben nur als eine von zahlreichen Möglichkeiten, die gleichberechtigt neben anderen Methoden steht, die man einsetzen kann. Im therapeutischen Schreiben arbeitet man beispielsweise mit Halbsätzen wie: „Als ich heute morgen erwachte…“, oder: „Aktuell beschäftigt mich am meisten…“, und schreibt dann weiter.
Welche kleine Schreibübung hat sich Ihrer Erfahrung nach bei vielen depressiv Erkrankten als hilfreich erwiesen?
Zentrale Merkmale einer Depression sind eine ausgeprägte Müdigkeit sowie eine große Erschöpfung und ein Interessenverlust. Und natürlich ist es schwierig, Energie für etwas aufzubringen, das man sich nicht einmal mehr vorstellen kann. Deswegen kann es hilfreich sein, trotz Müdigkeit und Erschöpfung den Versuch zu unternehmen und auf dem Papier Szenarien zu entwickeln, für die es sich lohnen könnte, Energie bereitzustellen.
Wenn Sie sich auf ein kleines Experiment in Richtung Selbsterfahrung einlassen wollen, beginnen Sie einen Text mit dem folgenden Halbsatz: „Wenn ich nicht so müde wäre, würde ich…“ Dann notieren Sie alles, was Ihnen dazu einfällt, egal ob es zunächst realistisch erscheint oder nicht. Anmerken möchte ich, dass diese Übung für alle Menschen hilfreich sein kann, egal wie vermeintlich gesund oder krank man ist, weil die Übung dazu beiträgt, Werte und Prioritäten zu klären und mögliche Leidenschaften neu oder wieder zu entdecken.
Prof. Dr. med. Silke Heimes ist Ärztin, Poesietherapeutin und Professorin für Journalistik an der Hochschule Darmstadt. Sie leitet das Institut für kreatives und therapeutisches Schreiben und hat mehrere Jahre als Ärztin in einer psychiatrischen Klinik gearbeitet.
Silke Heimes’ Buch Therapeutisches Schreiben bei Depressionen. Hilfe zur Selbsthilfe ist bei Kohlhammer erschienen (112 S., € 22,–)