Der deutliche Anstieg von Stress und Burnout-Erkrankungen in den letzten Jahren ist unübersehbar und hat dazu geführt, die Störungen ab 2019 in die ärztliche Diagnoseklassifikation ICD aufzunehmen. Hilft Achtsamkeit, dem Hamsterrad der permanent hektischen Arbeitswelt zu entkommen? Mit diesem Einstieg begründet Ursula Baatz ihr Interesse an „Achtsamkeit“. Sie möchte ergründen, warum aus einer unbekannten buddhistischen Meditationspraxis eine weitverbreitete Erfolgsmethode wurde, die heute in Krankenhäusern, von Managerinnen und Psychotherapeuten angewendet wird.
Als erfahrene Achtsamkeits- und Zenlehrerin berichtet die Autorin von berührenden Begegnungen, bei denen Menschen durch schlichte Achtsamkeitsübungen lernten, schwierige Lebenssituationen zu bewältigen. Dennoch stehe die Methode heute in Gefahr, ihre buddhistischen Wurzeln zu verlieren und in der neoliberalen Industriegesellschaft zur Selbstoptimierung „verzweckt“ zu werden.
Wie Achtsamkeit unter Mönchen wiederbelebt wurde
Das Buch ist systematisch aufgebaut und beschäftigt sich zunächst mit der Begriffsgeschichte und den historischen Wurzeln. Die meditative Insidermethode kleiner buddhistischer Zirkel fand erst in den späten 1970er Jahren eine größere gesellschaftliche Aufmerksamkeit.
Interessant zu lesen ist, dass Achtsamkeitsmeditation in den Lehrreden des Buddha in den Ländern des Theravadabuddhismus im 18. und 19. Jahrhundert selbst unter Mönchen nicht verbreitet war und erst in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wiederbelebt wurde.
Die Autorin verläuft sich manchmal in detaillierten Beschreibungen der verschiedenen Sprossen der Achtsamkeitsfamilie zwischen zenbuddhistischen und tibetischen Richtungen und ihren Rezeptionen in den USA und Europa. Leider fehlt ein Glossar am Ende des Buches, das buddhistische Hauptströmungen wie Zen, Theravada oder Vipassana oder Begriffe wie „nondualistische Präsenz“ erklärt.
Überraschend vielfältige Weltbilder hinter Achtsamkeit
Nach Baatz gelang der Durchbruch der Achtsamkeit als „Hybrid aus Neuropsychologie und buddhistischer Meditation“ durch das klinische Stressbewältigungsprogramm MBSR, das Jon Kabat-Zinn in den 1970er Jahren entwickelte, dessen Achtwochenkurse sich heute weltweit etabliert haben. Wissenschaftlich korrekt spricht Ursula Baatz selbst von „Achtsamkeiten“.
Denn Motive und Weltbilder der Achtsamkeit seien sehr unterschiedlich: Während es in der buddhistischen Tradition um Selbstkultivierung und ethisches Verhalten mit dem Ziel gehe, Gier, Hass und Verblendung zu beenden und zur Buddhanatur zu „erwachen“, richteten sich die meisten psychologischen Angebote auf Selbsthilfe bei Stress und Burnout mit dem Ziel der Selbstoptimierung. Manche wollten damit sogar eine neoliberale Ideologie stärken und sich sozialer Verantwortung entziehen.
In angenehm flüssiger Sprache – Baatz ist langjährige Wissenschafts- und Religionsjournalistin beim Österreichischen Rundfunk – stellt sie Heilmittel zur Verbesserung der Leistungsfähigkeit in der modernen Arbeitswelt zusammen und betont die Notwendigkeit, mehr Achtsamkeitsübungen in der Industriegesellschaft zu implementieren.
Welche Risiken und Nebenwirkungen hat Achtsamkeit?
Interessierte Leserinnen und Leser erfahren in weiteren Kapiteln aktuelle Forschungsergebnisse zur Wirksamkeit von Achtsamkeit, viele Details über den Kolonialismus in Südostasien und den erstaunlichen Wandel der Achtsamkeitsbilder. Als extremes Beispiel werden besondere Achtsamkeitstrainings genannt, die in den letzten Jahren häufiger im Militär eingesetzt würden, allerdings reduziert auf die funktionalen Fähigkeiten. Der eklatante Widerspruch zum Ideal der Gewaltlosigkeit im Buddhismus wird jedoch nicht problematisiert.
Das gut lesbare Fachbuch kommt zu dem recht trivialen Schluss, dass der Achtsamkeitsboom durch die Zunahme von Stress und Burnout ausgelöst worden sei. Seine Leserinnen und Leser können von präzisen ethnologischen Beobachtungen und den religionsgeschichtlichen Einblicken profitieren. Ohne Zweifel kennt sich die Autorin auf dem Grenzgebiet der Religionswissenschaft und Psychologie bestens aus und gibt ihr Wissen gerne weiter.
Leider hält sie an vielen spannenden Stellen ihre eigene Position und Einschätzung vornehm zurück. Distanziert spricht sie von Achtsamkeit als einer ambivalenten kulturellen Praxis zwischen gesellschaftlichem Nützlichkeitskalkül und spiritueller Öffnung. Darüber hinaus fehlen zwei wichtige Aspekte: Risiken und Nebenwirkungen von Achtsamkeit werden nicht genannt und die christlichen Traditionen der Kontemplation kommen nicht vor, obwohl beide Aspekte umfangreich erforscht sind.
Ursula Baatz: Achtsamkeit. Der Boom. Hintergründe, Perspektiven, Praktiken. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2023, 176 S., € 25,–