Ihr wisst ja gar nicht, wie gut es euch geht! – Dieser Satz ärgert uns, denn in ihm stecken pastorenhafte Schulmeisterei und ein Vorwurf an unser einmal wieder nicht funktionierendes Sensibilitätsorgan. Ja, er hat etwas Überhebliches, weil in ihm zum Ausdruck kommt, dass wir offenbar nicht in der Lage sind, das Schöne und Gute zu sehen.
Dennoch steckt in diesem Satz viel Wahrheit. Wir wissen tatsächlich oft nicht, wie gut es uns geht. Solange alles „normal“ ist, fällt es uns schwer, das Kostbare unseres Lebens zu erkennen. Wie gut es uns geht, wissen wir meistens erst, wenn das Selbstverständliche bedroht ist oder wir es schon verloren haben.
Tatsächlich gibt es viele Beispiele, wie Menschen entweder durch Phasen schmerzhafter Entbehrung oder gar durch völligen Verlust all das Selbstverständliche, was sie einst hatten, erst richtig schätzen gelernt haben. Wer sein Gehör durch eine Operation wiedergewinnt, wird anders und mehr hören als je zuvor, wer einmal ein paar Wochen im Rollstuhl gesessen hat, weiß, dass das Gehen intensiver und mit Freude erlebt wird – und wer eine schlimme Krankheit überwunden hat, wird es in einer ganz neuen und intensiven Art wertschätzen, überhaupt zu leben.
Wir befinden uns heute in einer Phase eines historisch nie dagewesenen Überflusses, in der uns kaum mehr ein soziales Entbehrungs- oder Verlusterlebnis den hohen Wert unseres gegenwärtigen Lebens verdeutlicht. Fatalerweise ist dieser Überfluss keineswegs nur das späte Ergebnis eines einst aus der Not geborenen effizienten Wirtschaftens, sondern ursprünglich genauso motiviert vom Wunsch, der Kostbarkeit des Lebens habhaft zu werden.
Wer schon genug hat, der versucht nur zu gern, durch Anhäufung, durch noch mehr Konsum sein Glück zu vermehren. Man könnte sagen: Überflussgesellschaften verlieren „mangels eines Mangels“ generell den Sinn für das Schöne des Lebens, und statt ihr Wohl in der „schönen Normalität“ zu suchen, versuchen sie, den Weg über das Anhäufen und Verwalten materieller Güter zu gehen. Haben oder Sein, nannte das Erich Fromm.
Dinge füllen jedoch nur eine innere Leere, räumlich, zeitlich und emotional, die Strategie selbst aber läuft leer. Fromm würde sagen: Im Massenkonsum werden Bedürfnisse befriedigt, die von kapitalistischen Verlockungen geweckt wurden, die aber nicht die wahren Bedürfnisse des Menschen sind. Was trotz aller Fülle unerfüllt bleibt, ist unser ureigener Wunsch, Beziehungen zu erleben und den eigenen kreativen Anteil auszuagieren – und vor allem, worum es hier geht: unser natürliches Leben als ein Geschenk zu empfinden.
Echte Lebenskunst in der Überflussgesellschaft heißt also gerade nicht, die eigene Anhäufungstechnik von Luxusgütern zu optimieren, sondern bedeutet das Vermögen, trotz ihrer Verfügbarkeit die „Fülle des Banalen“ wieder erkennen zu lernen.
Wie wir das erreichen können, lesen Sie im vollständigen Beitrag „Schätzen lernen, was man hat“ aus unserem aktuellen Themenheft der Reihe Psychologie Heute compact: Vom Glück des Weniger: Zu viel Leistungsdruck, zu viel Konsum, zu viel im Internet: Wie wir runterschalten und erfüllter leben