Was macht psychiatrische Diagnosen so besonders?

Im Gespräch widerspricht Peter Schneider der Ansicht, dass psychische Krankheiten wie alle andere auch sind. Doch warum?

Die Illustration zeigt den Autor, Peter Schneider
Peter Schneider ist Privatdozent für klinische Psychologie an der Universität Zürich und lehrt History and Epistemology of Psychoanalysis an der International Psychoanalytic University in Berlin. © Jan Rieckhoff

Um psychische Krankheiten zu entstigmatisieren, spricht man gelegentlich von ihnen als „Krankheiten wie alle anderen auch“. Warum widersprechen Sie dieser Sichtweise?

In der somatischen Medizin hat es sich in den meisten Fällen bewährt, die Krankheit vom Kranken zu trennen. Dies bei psychischen Erkrankungen auch zu tun ist unsinnig: Ein Depressiver ist depressiv und hat nicht eine Depression wie einen Virus oder einen Nierenstein. Die Diagnostik selbst fördert nichts prinzipiell Unbekanntes zutage. Psychische Krankheiten „als Krankheiten, wie alle anderen auch“ zu bezeichnen ist nett gemeint, fördert aber gerade die Entfremdung des leidenden Subjekts von seinem Zustand, der nicht eine „normale Krankheit“ ist, sondern ein besonderes Verhältnis dieses Subjekts zu sich und seiner Welt.

Warum gelten psychiatrische Diagnosen als so schwierig?

Psychiatrische Diagnosen werden nicht aufgrund von biologischen Markern erstellt, es sind rein klinische Diagnosen, die sich an Symptomen orientieren. Zu welchen Krankheitseinheiten man Symptome zusammenfasst, unterliegt einer gewissen Willkür und historischen Veränderungen. Diagnoseraster in der Psychiatrie beziehen sich nicht auf „Dinge“ wie Landkarten auf Flüsse, Berge und Wälder oder Anatomieatlanten auf Organe. Psychiatrische Diagnosen „erschaffen“ die Wirklichkeit, die sie gleichzeitig beschreiben. Das heißt aber nicht, dass sie bloße Erfindungen sind. Man kann sich das wie beim Strafgesetz vorstellen: Ob es sich bei der Tötung eines Menschen um Notwehr, fahr­lässige Tötung, Totschlag oder Mord handelt, ist erst durch die Verwendung eines juristischen Rasters zu entscheiden. Und in manchen Bereichen ändert sich das Recht immer wieder, in anderen bleibt es verhältnismäßig stabil.

Einige Störungen werden von Kritikern als Modediagnosen abgetan, so etwa die „multiple Persönlichkeitsstörung“, ADHS oder auch Burnout. Sie schreiben in Ihrem Buch: „Modediagnose ist ein historisch variabler Kampfbegriff.“ Was meinen Sie damit?

Es bedeutet, dass bei keiner Diagnose klar ist, ob sie sich halten wird oder ob sie wieder verschwindet. Entweder weil eine neue Kategorie sich als adäquater erwiesen hat oder weil ein bestimmter Krankheitszustand selbst verschwindet. Beides gibt es. Wenn man anerkennt, dass solche Diagnosen keine wandelbaren Gebilde sind, entspannt sich das Verhältnis zu den sogenannten Modediagnosen.

Seit den 1980er Jahren ist ein starker Anstieg der Autismusdiagnosen zu verzeichnen. Welche Gründe gibt es dafür?

Autistische Menschen nehmen zunehmend ihr Schicksal in die eigene Hand, Eltern wollen sich nicht länger als die Ursache der Behinderung ihrer Kinder betrachten lassen, es entsteht immer mehr Expertise bezüglich Autismus außerhalb psychiatrischer Institutionen. Es ist eine der wenigen Diagnosen, die sich tatsächlich nicht selbstverständlich aus den Symptomen ergeben und den Betroffenen eine neue Dimension ihres Lebens eröffnen. Es ist ein wenig wie mit dem schwulen Coming-out: Die Diagnose kann unsinnige Therapien verhindern und eine eigene neurodiverse Lebensform ermöglichen.

Wie könnte es gelingen, psychische Krankheiten zu entstigmatisieren?

Indem man sie einerseits ernst nimmt und andererseits entdramatisiert. Indem man Menschen ermöglicht, mit psychischen Krankheiten zu leben, und zwar auf eine Art, die Rücksicht auf dieses Leiden nimmt. Indem keine Prominente der Bild mehr „gesteht“, dass sie auch schon einmal eine Depression „gehabt“ hat. Indem man daran denkt, dass Musik in Einkaufszentren für autistische Menschen eine Qual ist. Aber nicht nur für sie… Kurz: Indem man sich schlicht an eine gewisse psychische Diversität gewöhnt.

Peter Schneider ist Privatdozent für klinische Psychologie an der Universität Zürich und lehrt History and Epistemology of Psychoanalysis an der International Psychoanalytic University in Berlin

Peter Schneiders Buch Normal, gestört, verrückt. Über die Besonderheiten psychiatrischer Diagnosen ist bei Schattauer in der Reihe „Wissen & Leben“ erschienen (192 S., € 20,–)

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 3/2021: Wege aus der Depression
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