Herr Hasan, die Corona-Krise verunsichert uns. Menschen mit psychotischen Erkrankungen kennen das quälende Gefühl, die Welt sei bedrohlich aus den Fugen geraten. Wie reagieren sie in der aktuellen Situation?
Generell sind Menschen mit einer psychotischen Erkrankung sehr feinfühlig gegenüber Veränderungen ihrer Umwelt. Wenn wir über psychotische Erkrankungen sprechen, meinen wir in der Regel Erkrankungen aus dem schizophrenen Formenkreis, also Schizophrenien und wahnhafte Störungen. Klassische Symptome der Schizophrenien sind Stimmenhören oder Verfolgungswahn – beispielsweise denkt man, dass der Geheimdienst hinter einem her ist – sowie bizarrer Wahn – dabei denken die Betroffenen etwa, dass Außerirdische sie entführt haben oder dass sie aus verschiedenen Teilen bestehen, die auf der Welt verstreut sind. Bei wahnhaften Störungen treten dagegen typischerweise keine Halluzinationen auf. Hier dreht sich der Wahn eher um Vorstellungen wie von der Umgebung vergiftet oder bestrahlt zu werden. Er betrifft häufig einsame ältere Menschen.
Wenn Menschen ohnehin oft Bedrohungen sehen, die andere nicht sehen, müsste sie die Corona-Krise doch besonders stark verunsichern.
Seit Kurzem kommen tatsächlich deutlich mehr Menschen mit Schizophrenien, aber zum Beispiel auch mit Manien in die Ambulanz, bei denen sich die Krankheitsinhalte um die Bedrohung durch Covid-19 drehen. Es ist bekannt, dass politische Entwicklungen in der Psychose verarbeitet werden, allerdings in der Regel mit zeitlicher Verzögerung. Wir merken häufig etwa sechs bis zwölf Monate nach einem besonderen Ereignis, dass sich die Psychosen auf das beziehen, was zuvor passiert ist. Nach 9/11 zum Beispiel haben sich viele mit Terrorismus beschäftigt, Mitte der 1980er Jahre mit der RAF. Das Virus wird also sicher weiter ein Thema bleiben. Was aktuell aber noch viel wichtiger ist: Die Menschen mit einer psychotischen Erkrankung in unserer Klinik leiden massiv unter den Vorgaben der Isolation.
Inwiefern?
Für Psychosepatienten ist Bewegung ganz wichtig. Antipsychotika verursachen häufig eine motorische Unruhe. Normalerweise haben mehr als 95 Prozent der Psychosepatienten in der Psychiatrie freien Ausgang. In Bayern bestehen derzeit jedoch umfangreiche Ausgangsbeschränkungen. Und wir können nicht gewährleisten, dass Menschen mit einer Psychose sich an die Regeln halten, weil sie häufig unter Denkzerfahrenheit und Konzentrationsschwierigkeiten leiden. Ihr Arbeitsgedächtnis ist gestört, während andere Gedächtnisfunktionen häufig unbeeinträchtigt sind. Das bedeutet, dass sie die Regeln zwar verstehen und wiedergeben, aber nicht umsetzen können. Bei Patienten, die besonders desorganisiert sind, achten wir darauf, dass sie gar nicht raus gehen. Sonst könnte es zu einer Eskalation kommen.
Was meinen Sie damit?
Aggression oder gar Gewalt, auch wenn dies bei Menschen mit einer Schizophrenie sehr selten vorkommt. Menschen mit einer psychotischen Erkrankung fällt es oft schwer, Nähe und Distanz zu erkennen und die Bedürfnisse des Gegenübers richtig wahrzunehmen. Das könnte zum Beispiel dazu führen, dass sie sich im Supermarkt nicht an die Abstandregeln halten, jemand anderem auf die Pelle rücken und sich diese Person provoziert fühlt – insbesondere wenn sie ebenfalls durch die aktuelle Gesamtsituation angespannt ist. Wir müssen auf die Patienten aufpassen, wollen aber gleichzeitig so wenig Zwang wie möglich anwenden.
Was ist momentan für Psychosepatienten besonders wichtig?
Ein hohes Maß an Zuwendung. Die meisten Psychosepatienten leben alleine. Wenn sie Freundeskreise haben, dann nur sehr kleine. Nun sind sie noch stärker isoliert. Und Isolation ist ein immenser Stressor, nicht nur für Psychosepatienten. Deshalb sind jetzt die Freunde so wichtig, aber viele Menschen sind momentan auf sich selbst fokussiert. Auch auf der Station ist es gerade ein großes Problem, dass die Patienten mit einer Psychose viel weniger Aufmerksamkeit bekommen als sonst, weil alle Kliniken personell und strukturell im absoluten Ausnahmemodus sind. Um eine empathisch-wertschätzende Beziehung zu einem Patienten herzustellen, muss man sich in Ruhe mit ihm hinsetzen können. Das geht nur, wenn auch im Team und in der Gesellschaft eine gewisse Gelassenheit herrscht. Momentan ist die Allgemeinheit jedoch verunsichert, weil alle Angst haben sich zu infizieren. Es fällt den Mitarbeitern schwer, das Thema Corona auszublenden und sich ganz auf den Patienten zu konzentrieren.
Wie kann man derzeit jemanden unterstützen, von dem man weiß, dass er an einer Psychose erkrankt ist?
Man sollte versuchen, in Kontakt zu kommen und die Menschen dabei unterstützen, ihrem Tag Struktur zu geben, was ihnen oft schwerfällt. Also anrufen, eine Nachricht schreiben oder fragen, ob jemand regelmäßig isst, schläft und die Medikamente nimmt. Wenn man über das Virus spricht, sollte man sachlich bleiben. Und hellhörig werden: Gibt es Kontaktabbrüche vom Gegenüber? Nimmt das wahnhafte Erleben zu? Entwickeln sich Schlafstörungen, die oft Frühwarnzeichen einer wiederkehrenden Psychose sind? Wenn dem so ist, sollte man denjenigen auch besuchen und ihn auffordern: Lass uns zu deinem Hausarzt, Psychotherapeuten oder Psychiater gehen!
Solche Kontakte helfen sicher auch Menschen mit anderen psychischen Erkrankungen.
Wir müssen die Betroffenen motivieren, das Hilfesystem aufzusuchen. Deutschlandweit kommen gerade insgesamt weniger Menschen in die psychiatrischen Ambulanzen, aus Angst vor dem Virus. Das bedeutet nicht, dass sie weniger belastet sind. Sie sind sogar stärker belastet, besonders depressive Patienten. Wir verzeichnen als Momentaufnahme mehr Suizidversuche außerhalb der Klinik. Das ist schockierend. Auch Zwangspatienten leiden verstärkt, weil Kontaminationsängste zunehmen. Und Menschen mit schweren Abhängigkeitserkrankungen bekommen – bis auf Alkohol – fast keine Drogen mehr, weil der Drogenmarkt leer gefegt ist. Was macht das mit einem Menschen, der abhängig ist? Alle trauen sich nicht, raus zu gehen und sich Hilfe zu suchen. Dabei verschlechtert die Verzögerung einer Behandlung den Verlauf einer Erkrankung.
Hinzu kommt: Einige niedergelassenen Psychiater und Psychotherapeuten schließen ihre Praxen als Folge der aktuellen Vorgaben. Ich kenne auch psychosomatische Kliniken und Tageskliniken, die schlichtweg die Ausgangs- und Hygieneregeln aktuell nicht umsetzen können und deshalb schließen müssen. Dann werden die Patienten entlassen – und die Therapie wird abgebrochen. Sie müssen ohne weitere Unterstützung nach Hause.
Was bedeuten die strengen Regeln durch Corona denn für den Alltag in der Klinik?
Nehmen wir zum Beispiel die Händehygiene: Momentan muss man sich bei Betreten des Krankenhauses die Hände waschen, sie mit Papierhandtüchern abtrocknen und dann 60 bis 90 Sekunden desinfizieren. Psychosepatienten schaffen das einfach nicht, genau wie sie es nicht schaffen, eine Maske zu tragen, wenn sie Husten haben. Hier bedarf es einer besonderen Aufmerksamkeit durch die Mitarbeiter, denn diese Maßnahmen sind ja sehr wichtig.
Warum fällt es den Patienten so schwer, diese Vorgaben einzuhalten?
Wahrscheinlich weil keine Einsicht in die Notwendigkeit besteht, wenig Selbstfürsorge und wenig Therapietreue. Sie halten sich krankheitsbedingt per se nicht so sehr an das, was die Ärzte raten – anders als zum Beispiel Patienten mit Depressionen oder Ängsten, die oft mehr Therapieeinsicht zeigen. Sie tragen zum Beispiel zwar einen Mund-Nasen-Schutz zunächst, nehmen ihn dann aber wieder ab mit der Begründung, dass sie diesen nicht brauchen. Außerdem fallen ihnen komplexe Handlungsabläufe schwer, deshalb brechen sie die Händehygiene zum Beispiel nach dem Waschen ab.
Und Patienten mit anderen psychischen Störungen?
Insgesamt ist das Verständnis für die Regeln groß. Viele Patienten wollten nach den Verfügungen der Staatskanzlei hier in Bayern und der Rede von Frau Merkel jedoch entlassen werden. Es ging ihnen zwar schlecht und sie waren zu einer Therapie bereit, konnten sich aber nicht vorstellen, ihre Familie nicht zu sehen, weil keine Besuche in Kliniken erlaubt sind.
Vor welchen Herausforderungen stehen die Mitarbeiter konkret?
Wir können viel weniger Therapien anbieten. Gruppentherapien mit zwölf Patienten müssen auf zwei bis drei kleinere Gruppen aufgeteilt werden, damit alle 1,50 Meter Abstand voneinander halten können. Dafür bräuchten wir prinzipiell drei Mal so viel Personal. Das haben wir nicht. Dann das Betretungsverbot: Auf einmal sind die Türen der Psychiatrie zu. Wie erklären Sie Angehörigen, dass sie jemanden nicht sehen dürfen, obwohl er in einer Krise steckt? Hinzu kommt auch bei den Mitarbeitern die Angst, sich anzustecken.
Das Schlimmste erwartet uns aber noch: Wenn es zu einer schweren Rezession kommt, werden viele Menschen ihre Jobs verlieren. Schon während der Weltwirtschaftskrise 1929 und nach der Lehman-Pleite gab es einen enormen Anstieg an schweren Depressionen und Suiziden. Wir rechnen nun mit einer ebenso großen Welle an belastungsabhängigen psychischen Erkrankungen.
Interview: Nele Langosch
Alkomiet Hasan ist Professor für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Augsburg und Direktor des dortigen Bezirkskrankenhauses. Sein Schwerpunkt liegt in der Behandlung von affektiven und nicht-affektiven Psychosen.