Steve Ayans Buch Seelenzauber. Aus Wien in die Welt. Das Jahrhundert der Psychologie erinnert an eine Kette von Magazintexten: überpointiert, kenntnisreich, mit einer ausgeprägten Vorliebe für den Blick hinter die Kulissen und auf die Schwächen der Protagonistinnen und Protagonisten, anschaulich, flott geschrieben, gut lesbar. Magazintexte sind nicht nur informativ und unterhaltend, sie enthalten häufig auch das Angebot, sich kritisch über die Mängel der dargestellten Prominenz zu erheben. So fühlen sich Leserinnen und Leser geschmeichelt, an überlegenem Wissen teilzuhaben, vorausgesetzt sie haben keine tiefergehende Kenntnis dessen, was ihnen der Autor da so appetitlich anrichtet.
Die Psychotherapie hat eine lange Vergangenheit, aber eine kurze Geschichte, die Ayan in Wien mit Sigmund Freud beginnen lässt. Sein Verhältnis zu dem Gründervater ist sehr ambivalent, man weiß nicht so recht, ob er ihn für einen Scharlatan hält oder für ein Genie; jedenfalls wird Freuds Machtanspruch stark überschätzt und mit keinem Wort erwähnt, dass Freud in den psychoanalytischen Organisationen seit den zwanziger Jahren praktisch entmachtet wurde. Seine Ansichten zur Laienanalyse und zu kurzen, aber alle fünf Jahre wiederholten Lehranalysen fanden kein Echo in Berlin, London und New York.
Ein Beispiel für Ayans sinnfreie Versuche, Freuds autoritäres Verhalten zu unterstreichen, ist etwa der Satz: Mit dem Neutralitätsgebot wollte Freud seit der gescheiterten Therapie Doras […] der Übertragung und Gegenübertragung einen Riegel vorschieben. In Wahrheit ist die Übertragungsanalyse Freuds wichtigste Neuerung; wer sie verriegelt, versperrt auch einem echten Verständnis der psychoanalytischen Arbeit die Tür.
Über die „abtrünnigen“ Schüler Adler und Rank urteilt Ayan freundlicher. Er beschreibt, welches Chaos Rank anrichtete, als er seine Patientin und Geliebte Anaïs Nin von Paris nach New York holte und anregte, sie solle als Psychoanalytikerin arbeiten. In der Park Avenue spielten sich daraufhin wilde Szenen ab: Nin glaubte an heilsamen Sex und verführte ihre Patienten, Rank musste einsehen, dass er sie nicht für sich allein haben konnte, und beendete tief deprimiert die Beziehung.
Ein Vorzug des Buchs liegt darin, dass sich die Leserschaft nicht langweilt. Es gelingt Ayan, Ursprünge der tiefenpsychologischen, humanistischen und verhaltenstherapeutischen Schulen anschaulich zu machen, Dichtung und Wahrheit geschickt zu mischen, mit Abstechern in die Anthroposophie, den Behaviorismus und die Logotherapie.
Auch alle Therapeuten, die Freud ablehnten, werden von Ayan nicht geschont. John Watson, der Begründer des Behaviorismus, empfahl, Zärtlichkeit und Trostspende bei Kindern zu vermeiden, um sie zu durchsetzungsfähigen Erwachsenen zu erziehen. Drei von Watsons vier Kindern unternahmen Suizidversuche; ein Sohn starb daran. Und Hans Jürgen Eysenck war sich nicht zu schade, im hohen Alter gegen den „Scharlatan Freud“ in der rechten National-Zeitung zu hetzen.
Steve Ayan: Seelenzauber. Aus Wien in die Welt. Das Jahrhundert der Psychologie. Dtv 2024, 400 S., € 26,–