„Viele Jugendliche übernehmen wenig Verantwortung für ihr Leben.“

Fehlt es jungen Menschen an Selbstständigkeit? Jugendlichen sind gesellschaftliche Realitäten ferner als fiktive Internetwelten; das stört Silke Naab.

Die Illustration zeigt die Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, die findet, dass viele Jugendliche zu wenig Verantwortung für ihr Leben übernehmen
Silke Naab ist Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie sowie Fachärztin für psychotherapeutische Medizin. © Jan Rieckhoff für Psychologie Heute

Die Generation der aktuell Jugendlichen und jungen Erwachsenen scheint sich in höherem Maße gestresst und überlastet zu fühlen als die Generationen vor ihnen. Zu beobachten ist auch, dass sie offenbar weniger an Arbeit interessiert sind und mehr an Selbstverwirklichung und Freizeit, dass sie also ein anderes Verständnis von Work-Life-Balance haben als die Elterngeneration, die sogenannten Babyboomer. Woran liegt das?

Die Babyboomer sind in ihren Werten und Zielen durch die Nachkriegsgeneration der eigenen Eltern und von deren Mangelerfahrungen geprägt. Den Auftrag ihrer Eltern, „es mal besser zu haben“, konnten viele der Babyboomer erfüllen und sich durch eigene Arbeit einen beachtlichen Wohlstand erarbeiten. Das Ziel, „es mal besser zu haben“, wird nun möglicherweise weiter tradiert. Da jedoch der materielle Wohlstand bereits vorhanden ist, geht es nun um Individualbedürfnisse und Selbstverwirklichung, hinsichtlich derer es Jugendliche und junge Erwachsene besser haben sollen und wollen. Bei den weniger Privilegierten kann es allerdings zu Frustration und zu Passivität kommen, weil sie nicht auf wirtschaftliche Sicherheit durch das Erbe ihrer Eltern vertrauen können.

Im Realitätsentzug

Es gibt noch einen anderen Hintergrund für diese Entwicklung. Für Jugendliche ist es heute sehr leicht geworden, sich im Internet und den sozialen Medien der Realität zu entziehen. Entertainment und Ablenkung sind jederzeit und überall verfügbar. Das Eintauchen in fantastische Welten, sogar das Leben in solchen ist in Form aufwendiger Computerspiele problemlos möglich. Influencerinnen und Influencer vermitteln Werte und Ziele weit weg von Arbeit und Anstrengung. In ihrer Welt stellt sich der Erfolg vermeintlich durch Schönheit, gesunde Ernährung, Fitness und Lifestyle ein.

Die Suggestion und Realitätsferne dieser Botschaften können die Kinder und Jugendlichen nicht erkennen. Möglicherweise orientieren sie sich auch deshalb nachhaltig in diese hedonistische und auch sehr ichbezogene Richtung. Bisweilen hat es den Anschein, als seien manchen Jugendlichen und jungen Erwachsenen gesellschaftliche Realitäten wie die Notwendigkeit, den eigenen Lebensunterhalt bis hin zur Altersvorsorge durch einen zu erlernenden Beruf zu verdienen, weniger bekannt als fiktive Lebenswelten im Internet.

Ziel wäre, Jugendlichen Orientierung zu geben, in gewisser Weise eine Erdung, mehr Realitätsnähe durch eine realistische Auseinandersetzung mit der eigenen Zukunft. Über frühzeitige Anleitung zu selbständigen Planungen bezüglich Ausbildung und Beruf, aber auch Familie und Lebensstil und die Konfrontation mit gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Realitäten ließe sich das Vakuum des „Keine Ahnung“ und die Flucht daraus in idealisierte Fantasien aus dem Internet vermeiden.

Besonderes Augenmerk sollte dabei auf die Entwicklung von Selbstsicherheit, Entscheidungsfähigkeit und die Kompetenz gelegt werden, für sich selbst, aber auch für die Gesellschaft Verantwortung zu übernehmen.

Silke Naab ist Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie sowie Fachärztin für psychotherapeutische Medizin. Sie ist Chefärztin der Abteilung für Kinder und Jugendliche an der Schön-Klinik Roseneck in Prien am Chiemsee.

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