Wo war Freud im Kalten Krieg?

Nach dem zweiten Weltkrieg verlor die Psychoanalyse an Ruhm. Aber wie kam es dazu? Um das zu beantworten, mischt Dagmar Herzog Geschichte mit Klatsch.

Ein Bücherstapel mit den Büchern, die in Ausgabe 8/2024 vorgestellt werden
Das ist der Bücherstapel der Rezesionen aus der Augustausgabe. © Psychologie Heute

Es war ein gutes Erntejahr: 2023 erschien nicht nur Michael Schröters monumentale Geschichte der Psychoanalyse in Deutschland Auf eigenem Weg. Dazu kam Ulrike Mays Bericht, wie die Psychoanalyse auf dem Weg von Wien nach London über Berlin die Sexualität verlor: Der Abschied vom Primat des Sexuellen. Und nun ein Buch der in New York lehrenden Historikerin Dagmar Herzog: Cold War Freud. Psychoanalyse in einem Zeitalter der Katas­trophen.

Dagmar Herzog schreibt durchweg spannend und gut lesbar. Das Buch hat freilich die fast unvermeidlichen Mängel einer Tour de Force durch Erdteile, von deren „analytischen Bewohnern“ die Autorin sehr unterschiedliche Kenntnisse hat. Die ersten Kapitel spielen in den USA.

Nach dem Krieg bemächtigte sich die christlich geprägte US-Kultur der Psychoanalyse. Sie sollte nicht allein Böses im Menschen verstehen, sondern Gutes in ihm reifen lassen. Sie wurde geradezu fromm gemacht, zu einer Ideologie gelingender Anpassung geformt – das anstößige Konzept einer allgegenwärtigen Sexualität und ihrer Anfänge in vielgestaltigen und „perversen Fantasien“ der Kindheit wurde durch die Behauptung ersetzt, in Wahrheit habe auch Freud eine Liebe gemeint, die hollywoodverträglich ist.

Die ersten Ansätze zu dieser Rezeption kamen von Rabbinern; später arbeitete neben vielen anderen Karl Menninger, Psychoanalytiker und bekennender Christ, in diese Richtung. Die entstehende „orthodoxe Psychoanalyse“ dominierte lange Jahre die amerikanische Psychiatrie und erhielt üppige staatliche Unterstützung; die amerikanischen Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytiker duldeten nur ausgebildete Psychiaterinnen und Psychiater als Vollmitglieder.

So wurde die Psychoanalyse in klarer Opposition zu Freud zu einer ärztlichen Angelegenheit und zu einem Nest des Widerstandes gegen die libertinäre Sexualforschung von Kinsey und Masters/Johnson. Psychoanalytische Institute in den USA weigerten sich bis in die neunziger Jahre und darüber hinaus hartnäckig, Homosexuelle zur Ausbildung zuzulassen.

Das sogenannte Böse

Das Interesse der Autorin an Details bis hin zu einer Neigung zum Klatsch belebt den Text, führt aber auch dazu, dass sich der historische Blick von den gesellschaftlichen Prozessen hin zu einzelnen Figuren verschiebt. Menschen machen hier Geschichte. So findet Dagmar Herzog nur recht allgemeine Antworten auf die Frage, weshalb die Freud-Verehrung heute aus der amerikanischen Psychiatrie so komplett verschwunden ist.

Insgesamt sollten die Leserinnen und Leser nicht erwarten, dass in Herzogs Buch viel vom Kalten Krieg die Rede ist. Cold War steckt den zeitlichen Rahmen ab, in dem die Psychoanalyse sich mit den Problemen der individualisierten Gesellschaft auseinandersetzen musste. In Europa reicht die Spannweite von den Entschädigungsforderungen der überlebenden Jüdinnen und Juden bis zur Ethnopsychoanalyse.

Hier sind manche Konstruktionen wenig stichhaltig und Auslassungen bedenklich. Dass etwa ein populäres Buch von Konrad Lorenz über Das sogenannte Böse (1963) die Auseinandersetzung des Ehepaars Mitscherlich mit dem Aggressionsproblem inspiriert habe, ist pure Vermutung. Im Gegenteil: Die Psychoanalyse stand Lorenz ausgesprochen kritisch gegenüber.

Die Weißen denken zu viel

Und Horst-Eberhard Richter, der in Deutschland für die Auseinandersetzung der Psychoanalyse mit sozialen Fragen ebenso wichtig war wie die Mitscherlichs, erwähnt Herzog nicht einmal. Im fünften Kapitel geht es um Gilles Deleuzes und Félix Guattaris Anti-Ödipus (1972), der vielfach als Protest gegen das analytische Establishment gelesen wird. Herzog spricht den beiden Rebellen sehr freundlich das Potenzial zu, die Psychoanalyse zu revitalisieren.

Im sechsten und letzten Kapitel zitiert sie den melancholischen Satz eines Ältesten der in Mali beheimateten Dogon: Die Weißen denken zu viel. Die Zürcher Ethnopsychoanalytiker Paul Parin, Fritz Morgenthaler und Goldy Parin-Matthèy wählten ihn als Titel eines Buches, das über den Kalten Krieg hinaus zeigt, wie fruchtbar die Psychoanalyse für ein vertieftes Verständnis zwischen unterschiedlichen Kulturen werden kann.

Morgenthaler ist für Herzog auch deshalb ein wichtiger Autor, weil der Zürcher Analytiker besonders konsequent den schon bei Freud nachweisbaren Gedanken weiterentwickelt hat, dass die Vielfalt des menschlichen Sexuallebens sich als eine Art Guerillakrieg gegen die kulturelle Institution Sexualität verstehen lässt. Anders als der Kalte Krieg ist dieser heiße noch nicht Geschichte und die Psychoanalyse ein Weg, ihn zu verstehen.

Dagmar Herzog: Cold War Freud. Psychoanalyse in einem Zeitalter der Katastrophen. Aus dem Amerikanischen von Aaron Lahl. Suhrkamp 2023, 380 S., € 28,–

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 8/2024: Glückliche Stunde gesucht
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