Leid im „Babyhotel“

Wie war es im Säuglingsheim aufzuwachsen? Felix Berth zeigt mit seinem Buch, dass Kindheitsvorstellungen historisch einem starken Wandel unterliegen

Ein Bücherstapel mit den Büchern, die in Ausgabe 11/2024 vorgestellt werden
Das ist der Bücherstapel der Rezensionen aus der Novemberausgabe 2024. © Psychologie Heute

Man lebt lustig im „Babyhotel“: „Kleine Gäste mit großem Appetit“ überschrieb die Frankfurter Allgemeine Zeitung 1961 eine Reportage über private Säuglingsheime, die im Ton des Titels eine fröhliche Idylle beschreibt. Dass Felix Berth diesen Artikel erst gegen Ende seines Buches über Die vergessenen Säuglingsheime zitiert, verweist auf eine bemerkenswerte Zurückhaltung des Autors.

Angesichts seiner Ergebnisse, die er in einem Abriss der Sozialgeschichte des Säuglingsheims sowie Erzählungen Betroffener vorstellt, wäre es ein Leichtes für ihn gewesen, auf Erschrecken oder Empörung der Leserinnen und Leser zu zielen. Stattdessen gibt seine Studie „Zur Geschichte der Fürsorge in Ost- und Westdeutschland“ eine faktenreiche und differenzierte Antwort auf die Frage, wie es zum „Vergessen“ einer Institution und Praxis kommen konnte, die für immerhin über eine Million Kinder in der Nachkriegszeit zu einer prägenden, oft traumatischen Erfahrung wurde.

Initial für die zahlreicher werdenden Untersuchungen solcher lange Zeit tabuisierter Missstände, wie etwa auch der verbreiteten Praxis der vorübergehenden Kurverschickung von Kindern, waren wohl die MeToo-Bewegung und methodisch das Citizen Science-Konzept, das zivilgesellschaftliche Initiativen, Biografiearbeit und wissenschaftliche Projekte miteinander verbindet. Hier leistet die Studie von Felix Berth für die Säuglingsheime einen wesentlichen Beitrag – sozialgeschichtlich auch deshalb spannend, weil er die Parallelen ebenso wie die markanten Unterschiede in den beiden Teilen Deutsch­lands präzise herausarbeitet.

Wie viel Leid und Zerstörung der Aufenthalt in einem Säuglingsheim für Kinder bedeuten konnte, wird nicht nur in den empirischen Teilen des Buches deutlich, sondern auch durch den abschließend skizzierten Abriss der wissenschaftlichen und mentalitätsgeschichtlichen Einflüsse, die solche Heime bis hin zum Ende der 1960er Jahre als eine nicht nur harmlose, sondern als „Babyhotel“ sogar wünschenswerte Unterbringungsform für Säuglinge propagierten. Die damit korrespondierende „pädagogische“ Theorie, Säuglinge bräuchten als potenzielle Tyranninnen und Tyrannen vor allem regelmäßige Fütterung, Strenge und Hygiene, war die herrschende Überzeugung, die zum Beispiel in dem Ratgeber Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind von Johanna Haarer verbreitet wurde – bis 1987 immer wieder neu aufgelegt.

Die Erkenntnisse der Bindungstheorie von John Bowlby, Anna Freud und René Spitz hingegen drangen in den 1970er Jahren in der BRD nur langsam, in der DDR noch später ins öffentliche Bewusstsein. Warum? Auch das beantwortet das Buch einleuchtend. Als historische Studie ist es, wie der Autor anfangs betont, kein Ratgeber. Aber es wird Betroffenen, deren Therapeutinnen und Therapeuten und Angehörigen die Augen öffnen. Berth macht jahrzehntelang verdrängtes und verleugnetes Leid sichtbar, entzieht die grausamen Erfahrungen vieler Nachkriegskinder dem Vergessen und ebnet den Weg zu der bitter nötigen Aufarbeitung und Anerkennung.

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 11/2024: Sind die anderen glücklicher? Streiten nur wir so viel? Passen wir noch zusammen?
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