Die historische Zahl: 1932

Ob erzählt oder aufgeschrieben: Geschichten ändern sich mit jeder Überlieferung. Was bleibt gleich und was kann sich ändern? Die Forschung klärt auf

Die Illustration zeigt einen Kopf mit Schließfächern vor ihm steht ein nordamerikanischer Ureinwohner vor seinem Tipi-Zelt, hinter ihm Gräber, während junge Menschen auf Leitern stehen
© Klawe Rzeczy für Psychologie Heute

Frederic Bartlett spielt Stille Post. Eines Nachts gingen zwei Männer hinunter zum Fluss, um Seehunde zu jagen. Da hörten sie Kriegsgeschrei. Nun vernahmen sie das Geräusch von Paddeln und eine Reihe Kanus kam in Sicht. Eines steuerte direkt auf die beiden zu. In ihm hockten fünf Gestalten, die, wie sich herausstellte, Geister waren. Sie forderten die beiden auf, sich ihrem Kriegszug anzuschließen. Einer der Angesprochenen ließ sich darauf ein und stieg ins Boot. Als er einige Zeit später in sein Dorf zurückkehrte, erzählte er von seinen Schlachten im Geisterkrieg. Viele seien getötet worden. „Sie sagten mir, ich sei verwundet, aber es geht mir gut.“ Dann verstummte er. Als die Sonne unterging, fiel er zu Boden. Etwas Schwarzes kam aus seinem Mund. Er war tot.

So in etwa, aber mit viel mehr sonderbaren Details, ging die Geschichte vom Krieg der Geister, die der englische Psychologe Frederic Bartlett in seinem Kellerlabor an der Universität Cambridge Versuchspersonen präsentierte. Bartlett hatte die indigene Volkssage aus Amerika wegen ihrer Fremdartigkeit ausgewählt. Wie würde ein britisches Publikum sich die Erzählung anverwandeln? Er testete das auf zweierlei Art. Zum einen erzählte dieselbe Person die Geschichte über lange Intervalle immer wieder nach. Zum anderen spielte eine Kette von Freiwilligen Stille Post: Die Sage wurde von einer Person zur nächsten weitererzählt und so fort.

Bei dieser „seriellen Reproduktion“, so erläuterte Bartlett in seinem 1932 erschienenen Buch Remembering, wurde die Narration auf eine bestimmte Weise verformt: Sie wurde kulturell angepasst, Unvertrautes abgeworfen, Vertrautes ausgeschmückt. Insgesamt wurde die Erzählung einfacher, kausaler, kohärenter. Irgendwann war sie dann auf ein stabiles Grundgerüst reduziert, das sich bei der Weitergabe kaum noch veränderte. Eine solche „stereotype Form“, so Bartletts Theorie, steckt in jedem Narrativ, jeder erinnerten Episode.

Unlängst griff ein Team der Indiana University um Fritz Breithaupt das Stille-Post-Spiel auf. Doch seine knapp 13000 Freiwilligen erzählten sich nicht exotische, sondern selbsterfundene Geschichten weiter. Wieder mutierten die Erzählungen erheblich. Eines aber blieb erhalten: die Grundstimmung. Trauriges blieb traurig, Fröhliches fröhlich.

Timeline

2022 Fritz Breithaupt u.a.: Beim Stille-Post-Spiel wird die emotionale Bewertung konserviert

2000 Yoshihisa Kashima: Geschlechtsrollen und andere Stereotype werden beim Weitererzählen gefestigt

1957 Leon Festinger: Menschen passenErzählungen ihrenÜberzeugungen an

1947 Gordon Allport, Leo Postman: Das Weitererzählen von Gerüchten reduziert deren Komplexität

1932 Frederic Bartlett spielt Stille Post

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 10/2023: Raus aus der Erschöpfung
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