Frau Professorin Stamm, in Ihrem Buch sprechen Sie von einer „neuen Kultur der Überleistung“. Was genau verstehen Sie darunter?
Überleistung ist eine Form von Hochleistung. Immer mehr Kinder werden auf Hochleistung getrimmt, so dass sie Ergebnisse liefern müssen, die eigentlich über ihren Fähigkeiten liegen. Die Überleisterkultur ist eine Folge der Konkurrenzgesellschaft, die unser Bildungssystem prägt und die auf Schule und Familie übergegriffen hat. Sich dieser Entwicklung zu entziehen ist sowohl für Lehrkräfte als auch für Eltern schwierig geworden. Sie fühlen sich deshalb mächtig unter Druck, Kinder so zu formen, dass sie den schulischen Erwartungen entsprechen. Fast unhinterfragt fügen sich manche Mütter und Väter in die ihnen zugedachte Rolle als Maximierer der kindlichen Entwicklung.
Welche Typen von Überleisterinnen und Überleistern gibt es?
In unserer Studie konnten wir vier Typen identifizieren. Erstens „Die zum Erfolg Geführten“. Sie stammen aus gut gebildeten Elternhäusern mit ausgesprochen ambitionierten Vätern und Müttern. Diese tun viel dafür, dass ihre Söhne und Töchter erfolgreich sind. Sie sind zwar leistungsbereit, müssen jedoch für gute Noten mehr Aufwand als andere erbringen und brauchen viel Unterstützung. Der zweite Typ sind „Die unter Druck Stehenden“. Sie haben eher holprige Schullaufbahnen, vielleicht gewisse Lernschwierigkeiten oder gehören zu den Langsamlernenden. Doch die Eltern drängen auf einen möglichst hohen Schulabschluss.
Anders ist der dritte Typ, „Die ambitionsbelasteten Aufsteiger“. Sie kommen aus einem eher bescheidenden Milieu, das jedoch hohe Erwartungen an sie hat. Und „Die intrinsisch Motivierten“, der vierte Typ, wollen aus eigener Initiative und mit besonderer Anstrengung gute Leistungen erzielen. Dieser Typ steht stellvertretend dafür, dass es auch Schülerinnen und Schüler gibt, die nicht von Schule oder Elternhaus angetrieben werden, sondern aus hoher Eigenmotivation Hochleistungen zeigen. Allen Typen gemeinsam ist, dass sie zu relativ ausgeprägten Selbstzweifeln neigen.
Ein Bildungssystem, das sehr viel Unterstützung vom Elternhaus erwartet, steht den zeitlich limitierten Möglichkeiten berufstätiger Väter und Mütter gegenüber…
Zunächst einmal: Ohne Unterstützung der Eltern funktioniert das Bildungssystem kaum. An dieser Ungerechtigkeit krankt es. Eltern sollen ihre Kinder motivieren, abfragen, fördern und kontrollieren. Viele können und wollen das. Einige wollen, können aber nicht. Hier müsste die Bildungspolitik ansetzen.
Wie können Eltern ihre Kinder vor diesem Hintergrund gut unterstützen?
Den vielleicht wichtigsten Teil des Elternjobs sehe ich in zwei Punkten: Erstens sollten Eltern versuchen, mit dem eigenen Stress umzugehen. Die Forschung zeigt zur Genüge, dass sich Elternstress auf die Kinder überträgt, andererseits, dass sich elterliche Selbstfürsorge positiv auf die Kinder auswirken kann.
Zweitens geht es darum, zu akzeptieren, dass Noten nicht das Gleiche sind wie Fähigkeiten. Eltern, die sich ausschließlich auf gute Noten sowie die Vermeidung von Misserfolgen konzentrieren und den Wert ihres Sprösslings daran bemessen, hindern ihn daran, Selbstvertrauen zu entwickeln. Das wesentlichste Ziel ist, Kinder im Glauben an sich selbst zu stärken und ihnen so emotionale Stabilität zu geben. Wer ein gutes Selbstwertgefühl entwickeln darf und in seinen Eigenheiten akzeptiert wird, kann besser mit Leistungsdruck umgehen. Kinder müssen nicht immer nur glänzen.
Margrit Stamm ist emeritierte Professorin für pädagogische Psychologie und Erziehungswissenschaften an der Universität Freiburg (Schweiz) und Direktorin des Forschungsinstituts Swiss Education.
Quelle
Margrit Stamms Buch Angepasst, strebsam, unglücklich. Die Folgen der Hochleistungsgesellschaft für unsere Kinder ist bei Kösel erschienen (192 S., € 20,–).