„Sie kam vom Land und lebte in der Großstadt, und sie liebte alles daran. Kein Mensch, der hier geboren ist, kann die Stadt so lieben wie ein Landei. Am schönsten natürlich war die Natur. Nirgendwo ist sie so wild wie in der Stadt. Sie kriecht aus allen Ecken, sie wächst auf den Mauern, legt sich in Blütenblättern auf Autos und Müllcontainer, und sie hält eine Heerschar an städtischen Angestellten in Trab, weil sie immer wieder den Asphalt aufbricht und Fassaden zerstört.
Fuchs und Wildschwein schleichen nachts über die Straßen. Schön erschien ihr aber auch die gezähmte Natur in den Parks. Jeder Baum, jeder Busch war überlegt gesetzt, jede Blume schien einer höheren Anordnung zu dienen. Und auf den Wiesen die braunen Flächen, niedergedrückt von Trunkenbolden, Leserinnen und Hunden.
Die Stadt-Natur-Schönheit kulminierte in ihren Augen in den U-Bahnhöfen: widerspenstige Gräser, unwahrscheinliche Schattenblumen, lebenslustige Ratten – und oben immer wieder ein Blick auf den Himmel: wenn die Bahn aus der Tiefe hervorkommt oder beim U-Bahn-Ausgang. Der Himmel durch ein Stück Architektur, die Vibes der heranrollenden Züge, Menschen und Musik über die Headphones – was ist größer?“
Was könnte die Bildbeschreibung mit Ihnen persönlich zu tun haben?
„Das ist eine lustige Frage. Abgesehen davon, dass ich vom Land komme, die Großstadt und alle U-Bahnen liebe, denke ich, stehen Städte für die grandiose Fantasie der Menschen, für ihre Kraft und ihre herbe Anmut. Schön sind die Blumen, schöner sind die Menschen und ihre Sehnsucht – und der gestirnte Himmel über ihnen. Ich denke gerade viel darüber nach, was es bedeutet, dass Menschen mit ihrer ganzen Pracht und ihrer Liebe dabei sind, den Planeten zu zerstören.“
Hedwig Richter ist Professorin für neuere und neueste Geschichte an der Universität der Bundeswehr in München. Jüngstes, vieldiskutiertes Sachbuch: Demokratie. Eine deutsche Affäre (C.H. Beck 2021)