Um zu illustrieren, wie einflussreich ein kollektives Gefühl von Kontrollverlust sein kann, wählen Sie ein historisches Beispiel: Kontrollverlust habe viele Menschen während der Weimarer Republik motiviert, sich für die nationalsozialistische Bewegung zu begeistern. Wie meinen Sie das?
Hehnen: Das Gefühl des kollektiven Kontrollverlusts entstand in Bevölkerungsgruppen wie der Arbeiterschaft, Teilen des Großbürgertums, unter Soldaten und der früheren militärischen Elite durch die Folgen des Ersten Weltkriegs, beispielsweise die Gebietsverluste und den Versailler Vertrag, sowie durch eine Kette weiterer Krisen in den 1920er und 1930er Jahren. Die politischen Institutionen waren instabil und nahezu alle Ordnungssysteme sowie die Wirtschaft zeigten extreme Krisensymptome. Diese Jahre wurden als sehr einschneidend erlebt.
Zudem war eine Reihe von Ansichten in weiten Teilen Deutschlands verbreitet. Dazu zählten etwa undemokratische Einstellungen, die Vorstellung nationaler Überlegenheit, Fremdenfeindlichkeit sowie ein hoher Stellenwert von Disziplin, Recht und Ordnung. In Deutschland war das Gefühl fehlender Kontrolle durch die ständigen Krisen wohl besonders stark ausgeprägt. Ein gemeinsames Motiv, Hitler zu folgen, gab es nicht – an ihn und die NS-Bewegung wurde aus unterschiedlichen Milieus der Wunsch gerichtet, Kontrolle wiederherzustellen.
War also das Gefühl von Kontrollverlust die Ursache dafür, dass sich die NS-Bewegung damals durchsetzen konnte?
Frey: Wir gehen nicht von einem Ursache-Wirkung-Mechanismus aus. Vielmehr spricht einiges dafür, dass dieses zunehmende Gefühl des Kontrollverlusts in Kombination mit den Krisen der Zeit und verbreiteten kognitiven Mustern neben weiteren Faktoren die Entwicklung hin zum autoritären Regime verstärkte, bis es zu einer Art „Kipppunkt“ kam, hin zu einem totalitären Regime.
Warum ist es so wichtig, das Gefühl von Kontrolle zu haben?
Hehnen: Ohne die Fähigkeit, Dinge zu beeinflussen, wären wir nicht überlebensfähig. Wir wollen die Wahl haben. Wir wollen uns Dinge erklären können und Ereignisse möglichst vorhersehen. Wird uns das entzogen, finden wir das unangenehm, das lässt sich schon an Kleinkindern beobachten. Verlieren wir die Kontrolle, wollen wir sie schnellstens wiederherstellen. Wenn wir allerdings denken, dass das nicht geht, kann es uns hilflos machen. In diesem Moment steigt unsere Bereitschaft, das auf andere zu delegieren, also etwa Politikerinnen und Politiker, die es dann für uns richten sollen.
Sie sehen Hinweise, dass sich heute wieder Gefühle des Kontrollverlusts verbreiten. Wie können wir trotzdem demokratiefähig bleiben?
Frey: Aus individueller Sicht ist es wichtig, die eigenen kognitiven Muster immer wieder zu hinterfragen und ein gefestigtes Wertesystem zu pflegen. Für alle gilt, verschiedene psychologische Kompetenzen ständig zu üben: Unsicherheit aushalten, Selbstregulation, rationales Abwägen, Situationen nicht beschönigen, realistische Perspektiven kommunizieren, konsequente Verurteilung und Sanktionierung demokratiefeindlicher Positionen, Verschwörungserzählungen und populistische Dramatisierungen durchschauen und dagegenhalten.
Dieter Frey ist Sozialpsychologe und leitet das Center for Leadership and People Management an der Ludwig-Maximilians-Universität München
Melissa Hehnen ist Sozialpsychologin, Doktorandin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Center for Leadership and People Management an der Ludwig-Maximilians-Universität München
Dieter Frey u.a.: Weimar, Hitler und „die Deutschen“ – ein sozialpsychologisches Bedingungssystem. Aufstieg und Akklamation der nationalsozialistischen Bewegung im Lichte der Theorie der kognizierten Kontrolle. Psychologische Rundschau, 2022. DOI: 10.1026/0033-3042/a000556