Von der Scham zum Stolz?

Abschied vom „Befreiungsnarrativ“: Benno Gammerl zeigt, dass die Geschichte der Homosexualität nicht geradlinig verläuft.

Benno Gammerl, der als Professor für Gender- und Sexualitätengeschichte am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz wirkt und sich in Forschung und universitärer Lehre mit den Schwer­punkten Imperiengeschichte und Emotionsgeschichte beschäftigt, hat ein Sachbuch über „schwules und lesbisches Leben in der Bunderepublik“ verfasst, das den Titel anders fühlen trägt.

„Schwule und Lesben erringen Erfolge im Kampf um Gleichberechtigung und sind gleichzeitig nach wie vor mit Ausgrenzung konfrontiert. Dieser Widerspruch charakterisiert nicht nur die Lage von männerliebenden Männern und frauenliebenden Frauen in der Bundesrepublik von 2017. Bereits die 1980er Jahre waren von solchen Ambivalenzen geprägt. […] Wenn man den Blick von der großen politischen Bühne ab- und dem Alltags- und Gefühls­erleben der Einzelnen zuwendet, sieht man keine Linie, die geradewegs vom Kerker unter Adenauer zur Entfesselung unter Merkel führt.“

Dies ist das Fazit, das der Autor im letzten Kapitel seiner Monografie zur Emotionsgeschichte von Lesben und Schwulen in der Bundesrepublik zieht. Anhand der Resultate von 32 mehrstündigen Interviews, die er mit gleichgeschlechtlich empfindenden Frauen und Männern aus verschiedenen Generationen geführt hat, zeigt Gammerl, dass eine Geschichtsschreibung aufgrund der rein äußerlichen Ereignisse zu kurz greift und zu einer Sicht vom Leben von Lesben und Schwulen in den vergangenen 70 Jahren führt, die der Realität nicht gerecht wird. Die soziale und rechtliche Situation ist lediglich die eine Seite. Ohne Einbeziehung der emotionalen Komponente entsteht ein falsches Bild, das den Eindruck vermittelt, die Geschichte der Homosexualitäten sei eine Geschichte des kontinuierlichen Wandels zum Positiven. Wie der Autor an einer Fülle von Beispielen überzeugend aufzeigt, wird eine solche Sicht weder der Vergangenheit, die damit oft heroisiert wird, noch der Gegenwart, die zufrieden das Angekommensein in der Normalität feiert, gerecht.

Völlig neue Perspektiven in Forschung und Wahrnehmung

Was seine Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner Gammerl über ihre Gefühlswelt berichten, widerlegt die weitverbreitete Annahme von den Gegensätzen, die das Leben von Lesben und Schwulen angeblich prägen: so die vermeintlich bessere Situation in den Metropolen gegenüber den „homophoben“ ländlichen Gegenden, die irrige, undifferenzierte Vorstellung „vom homofreundlichen Westen und dem homophoben Rest der Welt“ sowie das nicht der Realität entsprechende „Befreiungsnarrativ“, das von einem geradlinigen Fortschreiten „von der Scham in Zeiten der Unterdrückung zum Stolz in Zeiten der Emanzipation“ spricht. Die Lebens- und vor allem die Emotionsgeschichte der Interviewten weist auf eine wesentlich differenziertere Situation hin, in der damals wie heute beispielsweise im Spannungsfeld zwischen Emanzipation und Normalisierung vielfältige Ambivalenzen und ein Nebeneinander von Angst und Selbstbewusstsein bestehen.

Gammerls Geschichtsschreibung, die wesentlich die Emotionalität mitberücksichtigt, führt zu völlig neuen Perspektiven, welche sowohl für die Forschung als auch für die Wahrnehmung der Alltagswelt von Lesben und Schwulen eine große Bereicherung darstellen. So kommt der Autor zu dem Schluss: „Zwischen Emanzipation und Normalisierung liegen demnach nicht die sprichwörtlichen Welten, sondern entfaltet sich ein spannungsreiches Ineinander widersprüchlicher Strategien und Dynamiken. Vorsichtiges Verbergen, selbstbewusstes Provozieren und optimierendes Sicheinfügen schließen einander nicht aus – sie ergänzen sich und können sich produktiv aneinander reiben.“

Anhand der von ihm erhobenen Interviewdaten von frauenbegehrenden Frauen und männerbegehrenden Männern aus verschiedenen Generationen zeichnet Gammerl ein differenziertes und lebendiges Bild der Homosexualitätsgeschichte der Bundesrepublik. Es ist ein in jeder Hinsicht beeindruckendes Sachbuch, wobei es dem Autor gelungen ist, die Resultate der wissenschaftlichen Forschung in einer allgemeinverständlichen Form aufzubereiten und dabei wichtige Zukunftsperspektiven zu entwerfen: „Auf dem Feld der sexuellen Vielfalt gilt es – auch nach der Öffnung der Ehe für alle im Sommer 2017 –, gleichzeitig auszuweichen, aufzubrechen und anzukommen.“

Udo Rauchfleisch ist emeritierter Professor für klinische Psychologie, Universität Basel, und Psychotherapeut/Psychoanalytiker in privater Praxis in Basel


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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 6/2021: Menschen verstehen wie die Profis
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