Der gesamte Körper ist „tastsinnessensibel“. Jedes seiner kleinsten, feinsten Härchen, rund fünf Millionen an der Zahl, wächst in einem Haarfolikel. Hier sitzen die Rezeptoren, 50 Stück pro Folikel. So ergibt sich eine Zahl von 250 Millionen berührungsintensiven Rezeptoren, die allein an die Haare gekoppelt sind. Dazu kommen freie Nervenendigungen direkt unter der Haut, mikroskopisch kleine Äste von Nervenfasern ohne speziellen Rezeptor. Davon zählt jeder menschliche Körper zwei Billionen.
All das erfuhr man 2017 aus Homo hapticus, dem Buch Martin Grunwalds – in Österreich zum Wissenschaftsbuch des Jahres gekürt. Grunwald leitet das Haptik-Labor am Paul-Flechsig-Institut für Hirnforschung der Universität Leipzig. Er ist einer von gerade einmal einigen hundert Wissenschaftlern weltweit, die zum Thema Berührung forschen.
Körperlichkeit, Optimierung, Arbeitsmarkt
Die Journalistin Elisabeth von Thadden, Permanent Fellow des Kollegs „Postwachstumsgesellschaften“ der Deutschen Forschungsgemeinschaft an der Universität Jena, hat Grunwald besucht. In ihrem Buch Die berührungslose Gesellschaft zeichnet sie ein atmosphärisch dichtes Bild des Gesprächs mit dem nachdenklichen Forscher. Auch weitere Begegnungen sind in das Buch eingeflossen. Von Thadden sprach in Berlin mit einem Architekten, der Kleinsthäuser entwirft, in Heidelberg mit dem Neurologen Thomas Fuchs, und sie telefonierte mit Vera King, der Leiterin des Sigmund-Freud-Instituts in Frankfurt am Main. Es geht Elisabeth von Thadden, wie sie gleich zu Anfang schreibt, um die „menschliche Verletzbarkeit“, um die Entfaltung des Selbst und um das über Jahrhunderte erkämpfte Recht auf körperliche Unversehrtheit.
In vier Kapiteln, sacht hochtrabend als die „vier Sphären des epochalen Wandels, deren Schauplatz der Körper ist“ bezeichnet, beugt sie sich über die Materie. Sie beginnt mit dem menschlichen Tastsinn und dem Fingerspitzengefühl, das bei weitem nicht nur sprichwörtlich oder metaphorisch ist. Darauf folgen Kapitel über Recht und Politik, die Würde des Menschen und den Berührungsnotstand in der Pflege. Im Schlusskapitel geht von Thadden dann ausführlich auf Körperlichkeit, Optimierung und Arbeitsmarkt ein.
Lesenswertes Zeitungsdossier
Das liest sich alles gekonnt, klug und ist überaus versiert aufbereitet. Wenn es jedoch um das Konzept der Gemeinschaft geht, hätte man den Namen Erich Fromm erwartet – ausgelassen wird auch die Individualpsychologie von Alfred Adler.
Wäre von Thadden psychologisch wie psychologiehistorisch mehr in die Tiefe gegangen und hätte Passagen etwa über Marc-Uwe Klings Roman QualityLand oder die Diskussionen von Zeitungsbeiträgen um ein Beträchtliches gekürzt, wäre ihre Darstellung mehr geworden als ein langes, interessantes und lesenswertes Zeitungsdossier. So will sich die unbedingte Notwendigkeit dieses Buches nicht recht einstellen, sind doch beispielsweise die Bände Martin Grunwalds und Hartmut Rosas problemlos greifbar.
Elisabeth von Tadden: Die berührungslose Gesellschaft. C.H. Beck, München 2018, 206 S., € 16,95