Reden wir über Suizid

Selbsttötungen und Suizidgedanken sind weiter verbreitet, als man meint. Doch niemand spricht darüber. Dabei könnte genau das Leben retten.

Stefan Lange, der in seinem YouTube-Kanal schonungslos über seine Suizidversuche spricht, steht allein vor einer Hecke mit Herbstlaub
Stefan Lange ist einer, der über das spricht, worüber alle schweigen – Suizidgedanken © Steffen Roth

Kennen Sie jemanden, der schon mal an Suizid gedacht hat? Mit Sicherheit. Sie wissen es vielleicht nur nicht. Jeder zwölfte Deutsche hat schon einmal daran gedacht, sich das Leben zu nehmen, wie eine Erhebung der Universität Aachen im Jahr 2012 ergab. Im Alltag bedeutet das: In einem Büro mit 25 Kollegen hatten mindestens zwei von ihnen bereits Suizidgedanken.

Längst nicht alle handeln dann auch. Dennoch ist die Zahl der Suizidtoten hoch: Jede Stunde stirbt in Deutschland ein Mensch auf diese Weise. Darunter Männer wie Frauen, Kinder und Jugendliche, Menschen mitten im Leben und im letzten Abschnitt davon. Manager, Bauarbeiter, Leistungssportler, Ärzte, Supermarktkassierer. Freiberufler wie Führungskräfte und Angestellte. Väter, Großmütter, Geschwister.

Und doch: Es spricht keiner darüber. Suizidalität, also Gedanken an Selbsttötung, ebenso wie Suizidversuche bleiben unausgesprochen, meist auch der Tod eines Nahestehenden, der auf diese Weise geschah. Schon kleinste Gedanken an Selbsttötung inmitten einer persönlichen Krise wie einer Scheidung oder eines Jobverlusts werden verschwiegen. Das Schweigen kann jedoch Leben kosten, mahnen vor allem Menschen, die einen Suizidversuch überlebt haben. Sie fordern mehr Offenheit – und mehr Gespräche.

Er spricht, worüber alle schweigen

Stefan Lange ist einer von ihnen. Zweimal hat er es versucht, doch er hat die Suizidversuche überlebt. Er möchte das Schweigen darüber brechen. 2016 hat er sich vor eine Kamera gesetzt und acht Stunden über seine Krisenzeit gesprochen. Entstanden ist die YouTube-Serie Komm, lieber Tod, die heute knapp zwei Millionen Klicks zählt. Er berichtet darin von der Gewalt im Elternhaus, der Abwertung durch Mutter und Vater, von Selbstzweifeln und den Gedanken an den eigenen Tod, die sich schon in ihm einnisteten, als er noch ein Kind war. Er beschreibt ohne Filter seine Gefühle und Gedanken in einer schweren Lebenskrise und seine Suizidversuche.

Stefan Lange übertritt unsichtbare Grenzen, verletzt gesellschaftliche Normen und zeigt seine Untiefen. Medienhäuser blocken ihn immer wieder ab, wenn er sich als Gesprächspartner anbietet, manche Psychiatervereinigungen halten Abstand zu ihm und verweisen auf den Werther-Effekt.

Unvorsichtige Berichterstattung

Als Werther-Effekt bezeichnet man die statistische Beobachtung, dass Medienberichte über Suizide zu Nachahmungstaten führen können. Abgeleitet ist der Name von Goethes Frühwerk Die Leiden des jungen Werthers. Darin verliebt sich die Hauptfigur unglücklich und erschießt sich am Ende. Nach Veröffentlichung des Briefromans im Jahr 1774 soll die Zahl der Suizide mit Schusswaffe unter jungen Männern deutlich angestiegen sein. Moderne Studien bestätigen diese Wirkung, etwa wenn Zeitungen über Selbsttötungen von Prominenten berichten.

Stefan Lange hatte sich die Methode für seinen ersten Versuch in einem Zeitungsbericht abgeschaut, in dem über den Suizid eines Politikers berichtet wurde. Das bekannteste Beispiel für den Werther-Effekt in jüngerer Zeit ist der Tod des Fußballstars Robert Enke, der auf Zuggleisen starb. In Folge der überbordenden und sehr detailreichen Berichterstattung stieg die Zahl von Selbsttötungen auf Gleisen für zwei Wochen drastisch an, von üblicherweise 2,3 Fällen pro Tag auf bis zu neun.

Der Mechanismus dahinter: Eine ungünstige Berichterstattung kann Menschen in schweren Krisen, die sich bereits intensiv mit Ideen und Plänen für den eigenen Tod beschäftigen, in ihrem Vorhaben befördern, etwa durch zu viele Details oder eine besonders romantisierende Wortwahl. Die Gefahr ist, dass krisengeschüttelte Menschen sich zu sehr mit der verstorbenen Person identifizieren, Suizid als Lösungsweg erachten oder auf die Idee für eine konkrete Suizidmethode kommen. Verbände warnen daher seit Jahren vor allzu plakativen Suiziddarstellungen in den Medien.

Die Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention empfiehlt Journalisten zum Beispiel, detaillierte Angaben zu Methode und Ort sowie zu möglichen Gründen auszusparen. Stefan Lange hält sich nicht daran. In seiner Serie erzählt er im Detail von seinen zwei Versuchen, sich das Leben zu nehmen, und von seiner Verzweiflung. Das Ganze auf einem Onlineportal, jederzeit für jeden sichtbar. Provoziert er den Werther-Effekt?

Überlebensmut via YouTube

Die Reaktionen der Zuschauer fallen zumindest anders aus, als von vielen Experten erwartet. „Sie geben Menschen wie mir durch Ihre Aussprache wirklich das Gefühl, nicht allein mit der Art von Problemen dazustehen. Dafür wirklich von Herzen Danke“, schreibt Marvin in einem Kommentar zur Serie. Melanie postet auf Langes Facebook-Seite: „Du hast mir heute Kraft gegeben“, und berichtet, dass sie endlich mit ihren psychischen Nöten ins Krankenhaus gegangen sei. Viele Wochen habe sie das nicht geschafft, aber dank Langes Erzählung nun endlich gewagt. „Deine Geschichte gibt mir Hoffnung, auch meine eigenen Probleme zu überwinden und ein glückliches Leben zu führen“, offenbart Dominik in einer E-Mail. Noch deutlicher wird Christoph: „Ich bin dir so unendlich dankbar für deine Worte und deinen Mut zu leben“, schreibt er. Und ergänzt: „Ich habe nie den Suizid versucht, deinetwegen.“

Solche Nachrichten erhält Lange seither immer wieder. Und genau das wollte er mit seiner eigenen Geschichte erreichen: vorbeugen und Menschenleben retten. Seine Dokumentation trägt deshalb den Untertitel: „Eine Serie für das Leben“. Der österreichische Mediziner Thomas Niederkrotenthaler ist von der Wirkung nicht überrascht: „Wir haben es hier wohl mit dem Papageno-Effekt zu tun. Dem Gegenstück zum Werther-Effekt.“ Während der eine die Bewältigung einer suizidalen Krise zum Thema hat, wirkt der andere vor allem nach sensationsträchtigen Medienberichten.

Niederkrotenthaler hat den Papageno-Effekt mit Kollegen 2010 erstmals beschrieben und forscht seither dazu. Den Namen vergab er in Anlehnung an die Figur Papageno aus Mozarts Oper Die Zauberflöte. Darin sieht Papageno keinen Ausweg, als sich zu erhängen, doch im letzten Moment eilen Knaben herbei, die ihm gut zureden, sein Leben nicht wegzuwerfen. Papageno nimmt ihre Worte an und meistert seine Lebenssituation. Das könne auch in der Realität funktionieren, meint Niederkroten­thaler, wenn Medien daran erinnern, welche Alternativen es in schwierigen Lebensumständen gibt, in denen Suizidgedanken aufgekommen sind.

Papageno-Effekt macht Hoffnung

„Der Werther-Effekt entfaltet seine Wirkung, wenn Menschen sich mit der verstorbenen Person identifizieren können. Aber was lange übersehen wurde, ist, dass das auch in die positive Richtung gelingen kann“, sagt er. Wenn in Filmen, Zeitungsberichten oder Büchern eine suizidale Person die Krise bewältigt und die Zuschauer oder Leser sich mit ihr identifizieren, wirke das präventiv auf Menschen, die mit Suizidgedanken kämpfen. Das haben Niederkrotenthaler und Kollegen in Studien zeigen können.

Sie ließen beispielsweise in einer Untersuchung Probanden einen Zeitungsartikel über eine Person lesen, die suizidal war, aber diese Krise überstand, weil sie sich professionelle Hilfe suchte. Eine weitere Gruppe erhielt einen Text ohne Bezug zu diesem Thema. Im Vergleich nahm in der ersten Gruppe die Häufigkeit von Gedanken an einen eigenen Suizidversuch ab. „Stefan Langes Serie ist auch eine solche Bewältigungsgeschichte“, sagt Niederkrotenthaler.

Ob die neue Offenheit im Umgang mit Suizidalität den Werther-Effekt gänzlich aufheben kann oder beide Effekte gleichzeitig bestehen, ist noch unerforscht. Niederkrotenthalers Befunde zumindest machen Hoffnung, weil sie zeigen, dass es nicht unbedingt in den Werther-Effekt münden muss, wenn über suizidale Menschen berichtet wird. Im Gegenteil: Es kann sogar Leben retten. Es kommt nur darauf an, wie die Medien berichten.

Die gefährliche Scheu

„Ich glaube, dass die Angst vor dem Werther-­Effekt dazu führt, dass Medien selten wagen, über Suizidalität und Menschen, die das erlebt haben, zu berichten. Sie beschränken sich auf Promis, die Klickzahlen bringen, und das andere trauen sie sich nicht anzufassen“, kritisiert Stefan Lange. Zu diesem Schluss kommt auch die Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention. „Um die Jahrtausendwende setzte sich die Erkenntnis durch, dass die Vermeidung der Suizidberichterstattung zwar Folgesuizide verhindern könnte, gleichzeitig aber die weitere Tabuisierung der Suizidthematik fördere“, heißt es auf ihrer Website.

Tatsächlich ist die Furcht vor einer Selbsttötung und auch davor, mit Menschen in solchen Krisen umzugehen, in allen gesellschaftlichen Bereichen groß. Vor allem die Angst, etwas Falsches zu sagen oder den anderen durch Nachfragen gar in die Selbsttötung zu treiben, ist weit verbreitet, sitzt aber einem Mythos auf. „Es ist schon lange erwiesen, dass wir niemandem durch das bloße Nachfragen Suizidgedanken oder gar einen Versuch einreden können“, betont der Psychiater Manfred Wolfersdorf, der bis vor kurzem das Bezirkskrankenhaus Bayreuth leitete und zahlreiche Bücher zu Suizid und Depressionen veröffentlicht hat. „Im Gegenteil, jemanden persönlich zu fragen, ob er daran denke, sich das Leben zu nehmen, und ihm ein Gespräch anzubieten kann dem Menschen aus seiner Krise heraushelfen“, sagt er.

„Es gibt in der Gesellschaft eine große Scheu vor dem Thema. Das spüre ich auch auf anderen Ebenen“, sagt die Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention, Ute Lewitzka vom Universitätsklinikum Dresden. Während es schon seit Jahrzehnten staatlich geförderte Forschung und Aufklärung zu Unfalltoten im Straßenverkehr, zu Drogen oder HIV gibt, sei dies bislang im Hinblick auf Suizidalität unterblieben. „Dabei zählt Deutschland pro Jahr mehr Todesfälle durch Suizid als im Verkehr, durch Aids und Drogen zusammen“, sagt die Psychiaterin. Immerhin: 2019 erhielten Forschungsprojekte zur Selbsttötung zum ersten Mal finanzielle Unterstützung durch die Regierung.

Stefan Lange verspürt ebenfalls einen Wandel, mittlerweile hören immer mehr Menschen ihn an. Er hält nun regelmäßig Vorträge, bundesweit, gar international und vor Fachpublikum. Auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde 2018 zeigte er knapp 500 Gästen Teile seiner Serie und erhielt Lob und Anerkennung von vielen Seiten.

Die Menschen einfach ansprechen

Einem Suizidversuch gehen oft sehr lange Leidensgeschichten voraus, wie auch Überlebende hier berichten. „Von dem ersten Gedanken an den eigenen Tod bis zu einem Versuch vergehen oftmals Stunden, Tage oder gar Wochen. Hier gibt es immer ein Zeitfenster, in dem Personen wankelmütig sind und man sie erreichen kann“, sagt Psychiater Wolfersdorf. Denn: „Ich wollte nicht sterben“, sagt Nora Fieling, eine Überlebende und Bloggerin, „ich wollte nur, dass der Schmerz aufhört“ (siehe ihre Geschichte rechts). Doch viele sehen keine Lösung, ihr Blick ist verklärt; sich das Leben zu nehmen scheint ihnen der einzige Ausweg. Nicht selten nimmt eine psychische Erkrankung ihnen die klare Sicht, neun von zehn Suiziden geschehen in Folge einer Depression oder anderer seelischer Störungen.

Stefan Langes Rettung ist ein zufälliges Wiedersehen mit Anja, einer Studienkollegin. „Dir geht es nicht gut“, sagt sie zu ihm. Er nickt. In den folgenden zwei Wochen hört sie ihm zu, er erzählt ihr alles. Auf ihr Drängen begibt er sich in professionelle Hilfe. Das ist mehr als zwanzig Jahre her. Stefan Lange lebt und genießt das Leben. Er kann sich noch genau an den Moment erinnern, als er sich das erste Mal wieder am Leben erfreute. Es war Sommer und er mit seinem Mountainbike in den Schweizer Bergen unterwegs. An einer Alm hält er inne, lässt seinen Blick über die schneebedeckten Gipfel gleiten. Die Schönheit überwältigt ihn. Er muss weinen, minutenlang. „Sich über so etwas so tief zu freuen“, erinnert er sich, „das konnte ich ja nur, weil ich lebte. Das habe ich in dem Moment verstanden.“

Wie kann ich jemandem in der Krise helfen?

Ansprechen. Fragen Sie konkret nach, wenn Sie das Gefühl haben, dass jemand Suizidgedanken hat: „Denkst du an Suizid?“ Das kann nach schweren Krisen wie Jobverlust, Trennung oder körperlicher Erkrankung vorkommen. Trauen Sie sich nachzuhaken, ob jemand genaue Pläne hat, wie, wann und wo. Wenn jemand zeitnah danach handeln möchte, rufen Sie den Notarzt oder eine Hotline der Telefonseelsorge. Haben Sie das Gefühl, die Person ist in akuter Gefahr, lassen Sie sie nicht allein.

Zuhören. Fragen Sie nach, was in der Person vorgeht, was sie belas­tet. Hören Sie zu, ohne zu urteilen. Sie müssen nicht alles verstehen, was die Person fühlt. Bleiben Sie ruhig und respektvoll.

Unterstützen. Suizidgedanken gehen vorüber und sind oft Teil einer psychischen Erkrankung, und diese ist behandelbar – teilen Sie das der Person mit. Nur wenn Sie es auch umsetzen können, bieten Sie Hilfe an, eine Behandlung zu finden oder jemanden in die Klinik zu begleiten. Ermutigen Sie dazu, sich professionell helfen zu lassen, sei es durch eine Beratungsstelle, Krisendienste oder in einer psychotherapeutischen Sprechstunde. Bestärken Sie Selbsthilfestrategien. Gibt es jemand, mit dem die Person sprechen möchte, den Sie kontaktieren können? Was hat bisher in Krisen geholfen?

Brauchen Sie Hilfe?

Kreisen Ihre Gedanken um Suizid? Sprechen Sie mit jemandem darüber: Die Telefonseelsorge bietet eine anonyme Beratung, telefonisch, online oder persönlich. Sie erreichen sie unter den kostenlosen Telefonnummern 0800/1110111 und 0800/1110222 sowie online unter telefonseelsorge.de

Literatur

Florian Arendt u.a.: Effects of Suicide Awareness Material on Implicit Suicide Cognition: A Laboratory Experiment. Health Communication, 31/6, 2016, 718-726. DOI: 10.1080/10410236.2014.993495.

Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention: Empfehlungen für die Berichterstattung in den Medien.

Thomas Forkmann u.a.: Prevalence of suicidal ideation und related risk factors in the Gemran general population. Journal of Nervous and Mental Disease, 200/5, 2012, 401-405. DOI: 10.1097/NMD.0b013e31825322cf

Amanda Milligan: How to help someone who is suicidal. Mental Health First Aid, USA, 2018.

Nationales Suizidpräventions Programm: Empfehlungen für die Berichterstattung zum Thema Suizid und Internet.

Nationales Suizidpräventions Programm: Informationen über Suizidalität und Suizid.

Thomas Niederkrotenthaler: A suicide-protective papageno effect of media portrayals of coping with suicidality. Injury Prevention, 22/2, 2016.

Stefan Lange: Komm, lieber Tod. Eine Serie fürs Leben. 2016. 

Stiftung Deutsche Depressionshilfe: Empfehlung zur Berichterstattung über Suizid. Jahrbuch 2009. Leipzig, 2009.

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 2/2020: Wer bin ich noch?
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