Überhöhte Ansprüche?

Junge Erwachsene erwarten heute mehr von sich als früher, fühlen sich aber auch strenger beurteilt.

Die Abbildung zeigt eine junge Frau mit sehr langgestrecktem Hals. Das Bild symbolisiert überhöhte Ansprüche an sich selbst.
Die Ansprüche an sich selbst werden immer höher. © Joni Majer

Werden die Menschen in westlichen Gesellschaften immer perfektionistischer? Intuitiv mag es so wirken. Schließlich spornen Werte wie hart arbeiten zu müssen und Leistung zu bringen den Einzelnen immerzu an. Doch eine Studie, die einen möglichen Zusammenhang zwischen Kultur und Perfektionismus beleuchtet, fehlte bislang. Die britischen Forscher Thomas Curran von der University of Bath und Andrew Hill von der York St John University legten Anfang des Jahres eine Meta­analyse vor, die genau dies nahelegt: Heutige junge Erwachsene sind demnach perfektionistischer, als es ihre Altersgenossen in den 1980er Jahren waren.

Die Forscher werteten 246 Studien aus der Zeit zwischen 1989 und 2016 aus, an denen insgesamt fast 42 000 Teilnehmer aus den USA, Kanada und Großbritannien teilgenommen hatten, die zur Zeit der jeweiligen Erhebung zwischen 18 und 25 Jahre alt waren und studierten. Alle hatten die Multidimensional Perfectionism Scale beantwortet. Wie Curran und Hill erklären, werde Perfektionismus hier als eine Kombination von übertrieben hohen Standards gegenüber sich selbst und einer sehr strengen Selbsteinschätzung beschrieben.

Dabei unterscheidet der Fragebogen zwischen drei Arten des perfektionistischen Denkens. Beim selbstgerichteten Perfektionismus (self-oriented perfectionism) stellt der Einzelne unrealistisch hohe Erwartungen an sich selbst. Im Falle des sozialen Perfektionismus (socially prescribed perfectionism) glaubt die Person, ihre Umwelt – etwa die eigene Familie – hege extrem hohe Ansprüche ihr gegenüber. Die dritte Form des Perfektionismus richtet sich wiederum gegen das Umfeld: Der Einzelne erwartet übertrieben viel von seinen Mitmenschen. Psychologen sprechen vom außengerichteten Perfektionismus (other-oriented perfectionism).

Die Metaanalyse von Hill und Curran zeigt als eine der ersten Studien: „Alle drei Formen des Perfektionismus haben in den letzten dreißig Jahren unter Studierenden zugenommen“, so die Briten. „Unterschiede zwischen den Geschlechtern gab es nicht.“ Entgegen ihrer Erwartung stieg der auf das Selbst gerichtete Perfektionismus deutlich weniger als die anderen beiden Ausprägungen (10 Prozent). Es sei möglich, dass diese Form am wenigsten durch äußere Faktoren wie Gesellschaft und Kultur beeinflusst werde und deshalb die kulturellen Veränderungen keine so große Rolle spielten, mutmaßen die Forscher.

Wenn andere zu viel erwarten

Am deutlichsten hat der soziale Perfektionismus zugenommen (33 Prozent) – und zwar unter jungen Leuten in allen drei Ländern. Die Studierenden der letzten Jahrzehnte glauben demnach immer stärker, dass ihre Umwelt überhöhte Erwartungen an sie stellt. Auch fühlen sie sich zunehmend harscher und strenger von ihrem Umfeld beurteilt. Das sei eine beunruhigende Entwicklung, warnen Curran und Hill. Denn sozialer Perfektionismus bewirke Entfremdung: „Der Einzelne fühlt sich unverstanden und von anderen isoliert. Das macht ihn anfälliger für psychische Probleme wie Depressionen und Suizidgedanken.“

Individualismus und Wettbewerb

Die Psychologen vermuten, dass diese Entwicklung mit drei kulturellen Veränderungen der vergangenen 30 Jahre zu tun haben könnte. Die erste gehe auf den Zusammenbruch der Sowjetunion und das Ende des Kalten Krieges zurück, so Curran und Hill: Seit damals setzten sich individualistische und kompetitive Werte des Neoliberalismus stärker durch. „Der Einzelne soll an sich arbeiten, immerzu das Beste aus sich herausholen, sich selbst verwirklichen“, laute das Credo. Er solle immer weiter auf den nächsten Erfolg hinarbeiten. „Selbst wenn das nur mit Ellenbogen und zum Nachteil seiner Mitmenschen gelingt.“

Zweitens betrachten die Forscher meritokratische Werte als mögliche Ursache des zunehmenden Perfektionismus. Wer nicht sein Bestes gebe, sei weniger wert und habe als Mensch weniger zu bieten: „Die Meritokratie legt einen auffällig großen Wert auf Leistung und Verdienst – und nur einen geringen auf die individuelle Persönlichkeit.“

Der Nachwuchs könnte scheitern

Die Psychologen richten ihr Augenmerk drittens auf die Eltern. Mütter und Väter verinnerlichen demnach gesellschaftliche Werte und stehen unter wachsendem Druck: Sie müssen ihre Kinder zu erfolgreichen Menschen heranziehen. Die Sorge, der Nachwuchs könnte in der Gesellschaft nicht so weit kommen wie andere oder gar „scheitern“, spielt laut den Forschern erheblich in die Erziehung hinein: „Nicht zuletzt weil jedes Versagen der Kinder indirekt auch als Versagen der Eltern gilt.“ Mütter und Väter seien deshalb zusehends ängstlicher, kontrollierender im Umgang mit ihrem Nachwuchs.

Vor allem die Zunahme des sozialen Perfektionismus bereitet den Forschern Sorge. Sie verweisen auf einen Bericht der Weltgesundheitsorganisation von 2017: Die Zahl junger Menschen mit psychischen Erkrankungen habe eine Rekordhöhe erreicht. „Unsere Studie könnte helfen, diese besorgniserregende Entwicklung besser zu verstehen – und gegen sie vorzugehen“, kommentieren die Psychologen.

Thomas Curran, Andrew Hill: Perfectionism is increasing over time: A meta-analysis of birth cohort differences from 1989 to 2016. Psychological Bulletin, 2018. DOI: 10.1037/bul0000138

World Health Organization: Depression and other common mental disorders: Global health esti­mates, 2017. WHO reference number: WHO/MSD/MER/2017.2

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 11/2018: Manipulation durchschauen
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