Antworten auf die wichtigsten Chat-Fragen zum Thema Selbstwert bei Kindern

Nach dem Live-Talk: Entwicklungspsychologe Moritz Daum und Familientherapeutin Cornelia Stöckel geben Antworten auf Ihre offen gebliebenen Fragen

Ein Mädchen trägt einen Superheldinnen Umhang und steht in einer Power-Pose auf dem Sofa im Wohnzimmer
Ein guter Selbstwert kann eine wahre Superpower sein – nicht nur bei Kindern. © MoMo Productions/Getty Images

Warum ist ein stabiler Selbstwert zentral für die seelische Gesundheit von Kindern und was können Eltern tun, um ihn zu stärken? Darüber hat Psychologie-Heute-Chefredakteurin Dorothea Siegle mit Entwicklungspsychologe Professor Dr. Moritz Daum und Familientherapeutin Dr. Cornelia Stöckel via Zoom gesprochen. In dem 90-minütigen Live-Talk konnten nicht alle Fragen der Zuschauerinnen und Zuschauer beantwortet werden. Wir haben die häufigsten Chat-Fragen zusammengefasst und sie den beiden Expertinnen im Nachgang gestellt – hier sind ihre Antworten.

Bindung

Heute weiß man, dass die frühen Erfahrungen von Bindung, die ein Säugling mit seinen Bezugspersonen macht, zentral sind für den weiteren Lebensweg. Welchen Einfluss hat die Bindung zu den primären Bezugspersonen in der frühen Kindheit auf den Selbstwert eines Kindes?

Daum: Enge Bezugspersonen helfen einem Kind in den ersten Lebensjahren, seine eigenen Emotionen zu regulieren und seine Sicht auf sich selbst zu reflektieren. Ein Baby hat eine noch wenig ausgeprägte Emotionsregulation – es braucht die Eltern zum Beispiel zur Co-Regulation von Emotionen. Die Bezugspersonen sind seine soziale Referenz: Wenn das Kind unsicher ist, schaut es zu Mama oder Papa, um herauszufinden, wie sie die Situation einschätzen. Sind Eltern entspannt oder eben unentspannt, wirkt sich das entsprechend auf das Kind aus. Das Vertrauen, das die Kinder zu ihrer Bezugsperson aufgebaut haben, ist hier der entscheidende Faktor. Bei einer sicheren Bindung gibt es viel Vertrauen und bei einer unsicheren Bindung weniger. Eine gute Bindung hilft dem Kind, über die emotionale Komponente eine gute Rückmeldung dazu zu bekommen, wer es ist, und seinen Selbstwert zu erlernen.

Stöckel: Damit der Selbstwert eines Kindes sich gut entwickeln kann, ist Sicherheit maßgeblich. In einer Atmosphäre der Unsicherheit muss das Kind sich nach außen orientieren, ist von sich abgelenkt und in der Entwicklung des Selbstwerts beeinträchtigt. Das heißt nicht, dass die Entwicklung des Selbstwerts bei ambivalent oder unsicher gebundenen Kindern unmöglich ist, aber sie wird dadurch erschwert.

Wenn die Bindung in den ersten Lebensjahren auf ein eher unsicheres Fundament gestellt wurde, was können Eltern tun, um das in späteren Jahren noch auszugleichen und die Bindung zu stärken?

Daum: Heute versteht man – im Gegensatz zu den Anfängen der Bindungstheorie in den 1960er Jahren – unter Bindung nicht mehr nur eindimensional die Beziehung des Kindes zur Mutter, sondern auch zum Vater, Großeltern, Tanten, älteren Geschwistern oder anderen relevanten Personen im Umfeld. Das ist insofern wichtig zu wissen, weil es bedeutet, dass selbst wenn eine dieser Verbindungen nicht so gut ist, eine andere das auffangen kann – quasi eine Art Bindungsnetzwerk.

Wenn Eltern merken, dass die Bindung zu ihrem Kind eher unsicher ist, und sie feststellen, dass es daran liegen könnte, wie sie mit dem Kind umgehen, können sie durchaus noch etwas ändern. Wenn sie dadurch in eine vertrauensvollere Beziehung kommen, kann es sich natürlich positiv auf die Bindung von Kindern und ihren Eltern auswirken. Ein gutes Beispiel für das „Wiedergutmachen“ einer schwächeren Bindung ist eine Mutter mit postpartaler Depression, die in dieser Phase wahrscheinlich sehr wenig verfügbar ist. Sobald die Depression vorüber ist, kann es durchaus sein, dass die Beziehung sich verbessert, weil sie plötzlich sehr viel adäquater auf die Bedürfnisse des Babys eingeht. Gleichzeitig kann das Umfeld während solch einer depressiven Phase die fehlende Sensibilität der Mutter kompensieren und das Kind kann so trotzdem Vertrauen ins Leben entwickeln.

Kinder loben

Frau Stöckel, im Live-Talk am 19. November erklärten Sie, dass man Kinder nicht für alles übermäßig loben solle, sondern ihnen stattdessen etwas anderen anbieten könne. Was genau können Eltern anstelle von Lob tun?

Stöckel: Eine aufrichtige spontane Rückmeldung ist immer richtig. Es gibt einen Unterschied zwischen dem „sich wirklich über etwas freuen“ und wenn man denkt, man müsse loben und bestärken – an der Stelle wird es manipulativ. Eltern sollten ihrem Kind immer eine differenzierte, persönliche Rückmeldung geben.

Was halten Sie von Affirmationen, wie zum Beispiel „Ich bin sicher, ich bin wichtig, ich werde von Mama und Papa geliebt, ich kann mutig sein“?

Stöckel: Mich irritiert das ein bisschen. Ich finde es wichtiger, dass das Kind das erlebt, was da gesagt wird. Denn: Entweder das Kind erlebt all das ohnehin – dann braucht es die Affirmationen nicht – oder es erlebt es nicht, und die Affirmationen irritieren eher.

Negatives Selbstbild

Eine Teilnehmerin, die die folgende Frage im Chat gestellt hat, hat das Gefühl, dass das „ich kann das nicht“ ihrer Kinder häufig eine Ausrede für wenig Einsatz und ein Ersatz für „ich will das nicht“ ist. Sie fragt: Wie können Eltern am besten damit umgehen, wenn Kinder sich abwerten bzw. ihren Ansprüchen nicht genügen, aber gleichzeitig nicht die notwendigen Anstrengungen für bessere Ergebnisse unternehmen?

Daum: Eltern sollten Kindern immer ein Rahmengerüst geben, in dem sie sich bewegen können und – ganz wichtig – dieses Gerüst muss mit den Kindern mitwachsen. Auf der einen Seite soll es Halt geben, auf der anderen Seite Freiheit lassen. Und es ist herausfordernd, dieses Gerüst ständig anzupassen. Ein Beispiel: Ein Kind möchte auf dem Spielplatz irgendwo hochklettern. Nun können Eltern einen sehr losen Rahmen vorgeben und wenn es herunterfällt, hat es eben Pech gehabt. Ein enges Gerüst wäre hingegen, das Kind hochzuheben, aber dann hat es nichts selbst gemacht. Idealerweise schauen sich die Eltern an, was das Kind schon kann, klettern vielleicht mit, können verbal Hilfestellung geben und ihr Kind im Notfall auffangen, wenn es fällt. Aber normalerweise kommt es nicht dazu, weil die Schwierigkeit so an das Kind angepasst ist, dass es die Aufgabe meistert.

Der Psychologe Lew Wygotski hat hierfür den Begriff „Zone der proximalen Entwicklung“ geprägt, also das Potenzial zwischen dem, was die Kinder alleine können, und dem, was die Kinder mit optimaler Hilfe können. Wenn Kinder sagen, dass sie etwas nicht können oder wollen, dann ist möglicherweise der Schritt zu groß, den man von ihnen verlangt, und sie brauchen noch mehr Hilfe.

Wie können Kinder lernen, auch aus Niederlagen Selbstwertgefühl ziehen?

Stöckel: Hier ist es wichtig zu unterscheiden zwischen Selbstwert (also der Frage „Wer bin ich?“) und Selbstvertrauen („Was kann ich leisten?“). Eine Niederlage gibt eine Rückmeldung, wie gut ich bin im Vergleich zu anderen – das ist neutral zu sehen. Dabei muss ich mir klarmachen, dass dieses Verlieren nicht mit meinem Selbstwert verbunden ist. Wie sich ein Kind sich in so einer Situation fühlt, hängt maßgeblich davon ab, wie Eltern das begleiten können. Wir sollten Niederlagen als das sehen, was sie sind: eine Rückmeldung zu einer Leistung, die wir erbracht haben – nicht mehr und nicht weniger.

Selbstgefühl und Selbsteinschätzung

Eine Teilnehmerin schildert im Chat, dass ihre beiden Kinder (drei und fünf Jahre alt) nach deren eigener Einschätzung nie müde seien. Sie beschreibt es in ihrer Chat-Nachricht so: „Sie äußern nie, dass sie schlafen wollen und müde sind, sondern würden, wenn man sie lässt, bis 22 oder 23 Uhr aktiv bleiben, auch wenn sie sehr gereizt und quengelig sind.“ Ab welchem Alter kann man Kinder selbst entscheiden lassen, wann sie ins Bett gehen?

Stöckel: Manche Kinder können das schon mit zwei oder drei Jahren, und andere Menschen lernen das nie. Ich kenne Erwachsene, die schaffen es nicht, ins Bett zu gehen, obwohl sie eigentlich müde sind. Man kann aber sagen, dass beim Zubettgehen auch die Bedürfnisse der Eltern eine Rolle spielen sollten. Irgendwann will ich als Mutter oder Vater abends Ruhe haben und darf das dem Kind auch sagen. Es ist okay, wenn das Kind noch etwas wach liegt.

Fallen Ihnen weitere Situationen ein, wo das Selbstgefühl eines Kinders (noch) nicht stimmt und Eltern bestimmen sollten?

Stöckel: Es gibt sogar viele Bereiche, wo die Erwachsenen einen Führungsauftrag haben. Einkaufen ist eine solche Situation: Kinder können entscheiden, was sie essen, aber Erwachsene sollten entscheiden, was im Haus ist – also das Angebot. Wenn man einen Sohn oder eine Tochter „mit süßem Zahn“ zuhause hat, würde es ansonsten nur Süßigkeiten einkaufen. Wann es an die frische Luft geht, sollten Eltern ebenso bestimmen oder wenn es um die Familiengestaltung, Ausflüge und den Mediengebrauch geht. Kinder haben bestimmt Ideen und Meinungen dazu, aber Eltern haben eben einen Führungsauftrag und geben die Rahmenbedingungen vor. Es ist wichtig an der Stelle zu sagen: Dass ein Kind sich spürt und Selbstwert entwickelt, heißt nicht, dass es alles entscheiden sollte. Und ja, da kommt es sicher mal zu Konflikten – die gilt es auszuhalten.

Kinder bestärken, Dinge selbst zu tun – aber wie?

Ein siebenjähriger Junge fordert Hilfe beim Umziehen oder Begleitung auf den Schulweg, obwohl er das längst alleine kann. Er sucht immer wieder nach Bestätigung für Dinge, die er macht und erwartet viel Lob für seine Taten. Die Mutter konfrontiert ihn dann mit der Tatsache, dass das alles Dinge sind, die er schon längst kann und bei denen er eigentlich einen Schritt weitergehen könnte. Wie sollten Eltern mit so einer großen Unsicherheit umgehen, bei Dingen, die das Kind schon eigenständig kann?

Daum: Eltern müssen sich in so einem Fall die Frage stellen, wo dieses Verhalten herkommt. Offensichtlich hat das Kind ein Bedürfnis, das in seiner bisherigen Entwicklung nicht befriedigt wurde.

Ich habe ein passendes Bild zu dieser Frage: Eltern sind für ihre Kinder eine Tankstelle für Sicherheit. Die Kinder füllen ihren Sicherheits-Tank und nutzen ihn anschließend, um die Welt zu explorieren. Wenn der Tank klein oder nur halb voll ist, können sie damit nicht viel entdecken. Aber wenn er groß ist, können sie richtig weit damit kommen. Übertragen wir dieses Bild auf den Schulweg, heißt das: Wenn die Eltern den Schulweg oft genug mitgegangen sind und das Kind sich ganz sicher ist, kann es den Schulweg danach allein machen.

Eltern sollten die Gefühle und Ängste ihrer Kinder immer ernst nehmen und das Vorgehen mit dem Kind besprechen. Also zum Beispiel erklären, dass man den Schulweg jeden Tag ein bisschen kürzer begleitet. Und zwar solange, bis das Kind signalisiert: Jetzt fühle ich mich sicher, jetzt kannst du gehen.

Wenn ein Kind nichts entscheiden will – ob es Pizza oder Nudeln essen oder beim Einkaufen, ob es das T-Shirt in blau oder rot möchte – und jegliche Entscheidungsverantwortung an die Eltern zurück gibt – wie kann man seine Entscheidungsmut entwickeln oder stärken?

Daum: Dahinter können verschiedene Dinge stecken. Vielleicht wurde das Kind in der Vergangenheit schon oft nach seiner Meinung oder seinem Wunsch gefragt, aber die Antwort anschließend trotzdem nicht berücksichtigt. Das Kind hat im Gehirn abgespeichert: „Du hast zwar die Wahl, aber ich nehme deine Entscheidung nicht ernst!“ Möglicherweise hat es Angst, Fehler zu machen, eine falsche Entscheidung zu treffen und jemanden damit zu enttäuschen. Angst kann in Erfahrungen begründet sein, aber auch komplett unbegründet sein.

Eltern können ihrem Kind beim Entscheidungen treffen helfen, indem sie eine kleine Auswahl an realistischen Möglichkeiten anbieten, Entscheidungen, die das Kind trifft, respektieren, damit es merkt, dass es ernst gemeint ist, dass es entscheiden soll, und entscheidungsfaulen Kindern nach einem „entscheidet ihr“ den Ball nochmal zurück spielen. Zum Beispiel kann man sagen: „Ich weiß es doch auch nicht, worauf hast du denn Lust?“ Und das Wort „Lust“ signalisiert, dass das Kind seinen Wunsch frei ansprechen kann, ohne dass es Konsequenzen haben muss.

Differenzen unter Eltern

Eine Teilnehmerin schildert im Chat Differenzen mit ihrem Mann. Sie schreibt: „Mein Mann und ich haben andere Vorstellungen, unsere Kinder zu motivieren, zu stärken oder zu schimpfen. Er kritisiert immer wieder, ich sei als Mutter zu sanft und würde mir zu viele Sorgen machen – auch vor den Kindern. Dadurch sehen sie unseren Konflikt als Eltern und die gegenseitige Missachtung unserer unterschiedlichen Ansichten. Mein Mann hat die Einstellung, unser Sohn müsse seine Grenzen austesten, damit er sich stark fühlt.“ Die Teilnehmerin sorgt sich, dass dieses Verhalten sich auf das Selbstwertgefühl der Kinder auswirken könnte. Was würden Sie der Teilnehmerin und ihrem Mann raten?

Stöckel: Eltern sind immer unterschiedlich, und für Kinder ist das eine große Chance, weil sie unterschiedliche Rückmeldungen bekommen und sich davon rausnehmen können, was sie wollen. Kinder lernen so, dass man Dinge auf verschiedene Arten sehen kann. Das Wichtige ist nur, dass die Eltern sich nicht gegenseitig abwerten.

Eine andere Teilnehmerin ist vom Kindsvater geschieden und teilt sich das Sorgerecht mit dem Ex-Mann. Die 13-jährige Tochter verbringt jedes zweite Wochenende beim Vater. Nach Rückkehr vom Papa-Wochenende beobachte die Mutter, dass jeglicher Versuch, das Selbstbewusstsein der Tochter aufzubauen, wieder zunichte gemacht wurde – was womöglich mit Alkoholkonsum und Unbeherrschtheit des Vaters zusammenhängt. Die Mutter fragt, was Sie ihr raten würden?

Stöckel: Das ist eine heikle Situation und ich verstehe, dass die Mutter das mit Sorge sieht. Mit 13 Jahren kann die Tochter schon sehr gut trennen zwischen „da bin ich bei Mama“ und „da bin bei Papa“. Sie wird wissen, dass ihre Mutter zum Verhalten des Vaters kritisch steht. Der Tochter ist nicht geholfen, wenn zu Hause abwertend über den Vater gesprochen wird oder die Mutter sie ausfragt, denn damit kommt sie in einen Loyalitätskonflikt. Die Mutter sollte versuchen, nur den Rahmen zu gestalten, den sie gestalten kann und das ist die Zeit, die sie mit der Tochter verbringt, und versuchen, nicht zu bewerten, was auf der anderen Seite passiert. Sie kann – aber wirklich nur ab und zu – interessiert nachfragen, wie es der Tochter beim Papa geht, aber bitte ohne Unterton, der suggeriert, dass etwas schief läuft beim Vater. Wenn die Sorgen der Mutter größer sind oder werden, würde ich empfehlen, den Konflikt auf keinen Fall über die Tochter auszutragen, sondern Hilfe von außen zu holen oder den Vater zu einem gemeinsamen Gespräch einzuladen.

Selbstwert lernen & lehren in der Schule

Eine Frage aus Lehrer-Perspektive: Nun sind Lehrerinnen und Lehrer eher auf Leistung konditioniert – sie loben oder kritisieren das, was man kann – nicht, wer man ist. Was können Lehrkräfte tun, um das Selbstgefühl von Kindern zu stärken?

Stöckel: Das ist eine Frage, die ich gern zurückgeben möchte: Wie geht es den Lehrerinnen und Lehrern selbst? Ist es so, dass sie nur eine gute Lehrkraft sind, wenn die eigenen Schülerinnen und Schüler gute Noten haben? Heißt das umgekehrt, dass wenn die Klasse keine guten Noten hat, sie als Lehrkraft nichts wert sind? – Dann sind ja wirklich nur gute Leistungen wichtig. Sie mögen vielleicht besonders die Kinder, die gute Noten schreiben und finden die anderen eher schwierig, weil sie die eigene Kompetenz, Stoff zu vermitteln, in Frage stellen.

Abgesehen davon müssen sich Menschen im Lehrberuf immer wieder klar machen, dass da nicht Schülerinnen und Schüler sitzen, sondern Kinder oder noch besser: Menschen. In diesem Beruf ist man in einem Kontext, wo man Kindern etwas beibringen soll, aber die jungen Menschen macht so viel mehr aus. Sie sind mal vergnügt, mal müde oder traurig. Kinder sind keine Lernmaschinen, die ihre Persönlichkeit an der Garderobe abgeben. Es ist gut, wenn ich als Lehrerin oder Lehrer diesen Aspekt nicht übersehe. Das heißt nicht, dass Lehrkräfte neben dem Bildungsauftrag noch einen therapeutischen Auftrag haben, sie müssen keine Therapie leisten! Es heißt nur, dass es hilfreich ist, wenn ich Kindern neben dem Lehrangebot auch ein Beziehungsangebot mache. Eine gute Bindung ist die beste Grundlage für gutes Lernen, sie unterstützt gleichermaßen das Lernen und den Selbstwert. Zum Beispiel kann ich wohlwollend sagen: Ich glaube, du bist heute müde (= ich sehe dich, Beziehungsangebot), statt (vorwurfsvoll): „Bei dir ist es wohl gestern Abend zu spät gewesen“ (= Kritik, Ermahnung).

Ich bin immer wieder entsetzt, wenn ich mitbekomme, dass Schülerinnen und Schüler in der Schule abgewertet werden. Wenn es Lehrkräften gelingt, diesem Impuls zu widerstehen, ist bereits viel für ein selbstwertförderndes Klima in der Schule getan.

Eine Teilnehmerin schreibt, dass ihr Sohn (12) oft sehr wütend ist. Wenn die Mutter fragt, was los ist, antwortet er nur: „Weiß nicht“. Wie können Eltern mit ihrem Kind sprechen oder was können sie tun, um es ihm leichter zu machen, über seine Emotionen zu sprechen?

Daum: Wenn ein Kind mittags nach Hause kommt und völlig ausgehungert ist, bringt es nichts zu fragen: „Wie war es in der Schule?“. Wenn es entspannter ist, geht ein Gespräch schon leichter, aber hier sollte das Kind den Inhalt und Zeitpunkt der Unterhaltung bestimmen dürfen – nicht wir Eltern haben zu verlangen, was das Kind erzählt. Mit zwölf Jahren ist der Sohn wahrscheinlich mitten in der Pubertät und pubertierende Kinder wissen in dem Moment vielleicht wirklich gar nicht, warum sie wütend sind. Sie sind in dieser Phase oft mit Hormonen und Gefühlen überfordert.

Es ist wichtig, Räume zu schaffen, in denen das Kind sicher ist und in Ruhe und von sich aus Auskunft geben kann. Eltern müssen eben mal aushalten, wenn einen Tag lang oder mehrere Tage nichts gesagt wird. Wer schon vorher ein vertrauensvolles Verhältnis und eine gute Bindung zu seinem Kind aufgebaut hat, wird merken, dass es leichter ist, wenn das Kind sich wohlfühlt und dann – auch in einer Phase des Umbruchs wie der Pubertät – Auskunft gibt, was es gerade beschäftigt.

Hobbys und Zukunftsträume

Wie realistisch und ehrlich dürfen Eltern bei Zukunftswünschen sein – in Bezug auf Berufe wie Ballerina, Fußballprofi, Eiskunstlaufprofi, Profisportler usw.?

Daum: Kinder haben Träume und die können dazu führen, dass sie sehr motiviert Dinge tun. Wenn ich meinem zehnjährigen Sohn sage: „Das wird sowieso nichts“, ist das zu hart. Im Jugendalter kann man seinem Kind aber durchaus eine realistische Einschätzung geben. Manchmal ist es sogar hilfreich, wenn man diese auslagert – also das Feedback von einem externen Experten oder einer Expertin einholt. Von den Eltern würde der Sohn das Feedback womöglich gar nicht annehmen.

Ich würde empfehlen, dem Kind die Möglichkeit zu geben, seinen Traum auszuprobieren, und später kommt die Erkenntnis meist von selbst: Es macht mir Spaß, aber ich belasse es beim Hobby und werde keine Profifußballer. Zu unserer Identität gehört eben auch, sich zu fragen: „Wer bin ich als Sportler?“ genau wie „Was für einen Beruf will ich ausüben?“. Und das dürfen Kinder selbst festlegen und von den Eltern die Freiheit bekommen, sich auszuprobieren.

Wie sollten Eltern damit umgehen, wenn ein Kind immer wieder neue Hobbys beginnt und sofort keine Lust mehr hat und aufgeben möchte?

Daum: Ich verstehe die Angst, dass das zur Dauerschleife wird. Man darf Kindern durchaus mitteilen, dass jedes neue Hobby zum Beispiel mit finanziellem Aufwand verbunden ist. So lernt das Kind, welche Konsequenzen sein Handeln hat. Natürlich wird das ein Fünfjähriger weniger verstehen, aber ein Zwölfjähriger kann das durchaus begreifen.

Bei Kindern, die sehr wechselhaft sind, können Eltern eine Art Vertrag eingehen. Wenn das Kind also wieder etwas Neues beginnen will, können vorher die Bedingungen besprochen werden, zum Beispiel: Wenn wir den Ballettunterricht für ein halbes Jahr bezahlen, dann probierst du es ein halbes Jahr lang aus. Wenn das Kind danach wieder aufgeben will, macht es ihm wahrscheinlich wirklich keinen Spaß.

Selbstwert stärken nach Mobbing

Wenn Eltern mitbekommen, dass ihr Kind gemobbt wird – wann sollten sie einschreiten?

Stöckel: Erzählt mir mein Kind davon, dass es gemobbt wird, ist das ein gutes Zeichen und ein Vertrauensbeweis. Das zeigt: Es gibt einen Ort, wo mein Kind mit seinem Problem hingehen kann. Eltern sollten nicht den Fehler machen, sich gleich übermäßig zu empören, denn das ist für die Kinder oft am schwersten, sondern die Erzählung erstmal aushalten. An dieser Stelle ist es gut zu wissen, dass Kinder mit schlechtem Selbstwert anfälliger für Mobbing sind. Das heißt im Umkehrschluss, dass Eltern sich fragen sollten: Was passiert in Bezug auf den Selbstwert meines Kindes sonst so in seinem Leben? Bin ich als Elternteil stärkend?

Und schließlich ist Mobbing oft ein systemisches Problem, es hat immer auch mit der Schule zu tun. Deswegen ist es wichtig, eine Rückmeldung an die Schule geben – aber mit einer offenen Haltung und mit Interesse, und bitte nicht gleich als Angriff.

Die Tochter einer Teilnehmerin hat an der Grundschule Erfahrung mit Mobbing und Gewalt gemacht. Zwei Jahre, einen Schulwechsel und eine Reha später sehen die Eltern einerseits Besserung. Das Kind ist jedoch weiterhin oft unsicher, misstrauisch und nimmt vieles persönlich. Sie ist sich gegenüber oft negativ eingestellt. Wie können die Eltern ihren Selbstwert – auch im Hinblick auf den anstehenden Schulwechsel zur weiterführenden Schule – weiterhin stärken?

Stöckel: Wenn die Tochter misstrauisch und unsicher ist, hat sie wahrscheinlich allen Grund dafür – das sollten die Eltern nicht klein- oder wegreden. Und in so einem Fall sollte man nicht nur auf Mobbing-Erfahrung schauen, sie nicht komplett in den Fokus nehmen, sondern abwarten, was auf die Familie, aber vor allem auf das Kind zukommt. Hier finde ich Affirmationen als Tool für Eltern sinnvoll, um das Kind ohne Sorgen und entspannter begleiten zu können. Zum Beispiel könnten die Eltern sich immer wieder sagen, dass herausfordernde Erfahrungen zum Leben dazu gehören und es nicht darum geht, der Tochter Schmerz zu ersparen, sondern sie im Schmerz gut zu begleiten. Ein konkreter Satz könnte sein: Unsere Tochter darf lernen, sich zu wehren.

Und im Hinblick auf den Schulwechsel: Es muss nicht alles gleich glatt laufen, es kann zunächst schwierig sein. Die Eltern sollten das beobachten und sich darauf einstellen, dass die Tochter sie zuhause als Anker und emotionale Kraftquelle braucht.

Veranstaltungshinweis:
Unser nächster Live-Talk hat das Thema „Mobbing bei Kindern und Jugendlichen“ und findet am 21.01.2025 um 19:00 Uhr statt. Sie können sich hier schon für die Veranstaltung vormerken lassen.

Selbstwert, Smartphone und soziale Medien

Herr Daum, welchen Einfluss hat das Smartphone auf das Selbstwertgefühl von Kindern – gerade auch, was den Körper betrifft – was weiß die Forschung da?

Daum: Es gibt eine große neue Metaanalyse zur Wirkung der sozialen Medien. Das Ergebnis: Man kann nicht sagen, dass soziale Medien und Smartphone das sind, was wir bekämpfen müssen. Es gibt so viele andere Aspekte, die den Selbstwert beeinflussen. Bei Smartphones wird oft sehr eindimensional gedacht (verbieten, beschränken usw.), aber es ist wichtig, auch über die verschiedenen anderen Faktoren nachzudenken. Anstatt einer „Alles oder nichts“-Einstellung bei Handynutzung und sozialen Medien, sollten Eltern sich darum kümmern, was sich das Kind auf dem Smartphone anschaut, was es da macht. Und zwar interessiert und nicht kontrollierend. Wenn die Kinder Dinge sehen, die sie verstörend finden, sollten sie wissen, dass sie mit den Eltern offen darüber sprechen können, ohne Angst davor, deswegen kritisiert zu werden.

Selbstwert bei Kindern mit Behinderung

Mehrere Teilnehmer fragten nach Tipps, wie sie den Selbstwert ihrer Kinder stärken können, wenn diese eine körperliche oder geistige Behinderung oder eine psychische Störung haben. Gibt es konkrete Tipps, wie man als Eltern den Selbstwert behinderter Kinder stärken kann?

Stöckel: Da möchte ich zunächst eine Frage zurückstellen: Wie stehen die Eltern selber zu ihrem Kind? Sehen sie die Behinderung als Makel, der ihnen Angst macht, oder schämen sie sich sogar, weil die Leute schauen? Denn dann ist es egal, was ich meinem Kind sage, weil es das spürt. Ich empfehle Eltern, Selbsthilfegruppen zu nutzen, um sich selbst zu stärken, damit sie fest hinter ihrem Kind stehen können. Und das merkt das Kind.

In meiner Doktorarbeit haben ich mit von Contergan geschädigten Menschen gearbeitet (Anm. d. Red.: Contergan führte zum größte Arzneimittelskandal der Geschichte. Das Medikament griff in den Entwicklungsprozess von Embryos ein und richtete dadurch unwiderruflich Schaden bei den Kindern an, die mit verstümmelten Armen, Beine oder Ohren zur Welt kamen.). Dabei habe ich herausgefunden: nicht die Art und Schwere der Schädigung, sondern wie sie aufgezogen wurden, hatte Einfluss darauf, wie es den Kindern später als Erwachsene erging. Es kommt nicht so sehr darauf an, wie stark die Beeinträchtigung des Kindes ist, sondern wie wir als Eltern damit umgehen.

Wie kann man autistischen Kindern, die spüren anders zu sein, als die Klassenkameraden, in ihrem Selbstwert stärken?

Stöckel: Vor der Diagnose haben Eltern oft das Gefühl, sie müssen ihr Kind verändern, weil sie merken, dass sein Verhalten als Makel gesehen wird. Eine Diagnose schafft oft Erleichterung und Klarheit: Das Kind wird sich nicht ändern. Mein Rat: Die Begrenzungen, die mit Autismus einhergehen, anzuerkennen und das Kind nicht verändern zu wollen. Außerdem sollten Eltern sich fragen: Wie kann ich das Verhalten meines autistischen Kindes gut begleiten? Indem sie es nicht mehr ändern wollen, sondern die Begrenzungen, die mit dem Autismus einhergehen, anerkennen und das Kind so gut wie möglich unterstützen, im Alltag zurechtzukommen. Es geht hier um die Selbstverständlichkeit, mit der ich hinter meinem Kind stehe: Schäme ich mich, weil es Dinge macht, die ich unangemessen finde? Oder kann ich es gut begleiten, indem ich sein Verhalten erkläre, und sage: „Mein Kind meint es nicht so“, oder habe ich große Ängste, was in der Schule passiert?

Eine andere Teilnehmerin hat einen Sohn mit ADHS-Diagnose. Sie beobachtet, dass das Kind durch die ständige Kritik ein sehr schlechtes Selbstbild hat. Die Eltern haben sich vorgenommen, mehr positive Rückmeldungen zu geben, um das Negativ-Feedback quasi umzukehren. Die Frage der Mutter lautet nun aber: Finden Sie diese Herangehensweise sinnvoll oder kann man Kinder mit ADHS auch zu viel loben?

Stöckel: Ich würde eher ermutigen, das Augenmerk darauf zu legen, was meinem Kind hilft, ruhiger zu sein, und was für es hinderlich ist, dass es sich konzentrieren kann. Also zum Beispiel eine reizarme Umgebung, feste Schlafenszeiten, Routinen – und was außerdem wichtig ist: In der Schule sachlich aufklären. ADHS sollte unter Lehrkräften bekannt sein, es ist aber keine Selbstverständlichkeit. Dann bekommt das Kind immer negative Rückmeldung, obwohl es eben gar nichts an seinem Verhalten ändern kann. Aber durch übermäßiges Lob etwas ausgleichen zu wollen, wie es die Teilnehmerin beschreibt, finde ich nicht sinnvoll.

Abschlussfrage

Wenn Sie Eltern nur einen Satz mitgeben dürften zum Thema Selbstwert ihrer Kinder – welcher Satz wäre das?

Stöckel: Es ist viel wichtiger, dass wir uns nachhaltig dafür interessieren, wer unser Kind ist, als dass wir immer wieder aufs Neue versuchen, ihm zu vermitteln, wie wir es gerne hätten.

Daum: Geben Sie Ihren Kindern bedingungslose Liebe und – das ist eigentlich ein zweiter Satz – geben Sie ihm die Freiheit selbst herausfinden zu dürfen, wer es ist und wer es sein möchte. (In Anlehnung an ein Zitat aus der Netflix-Serie sex education: „You gotta let me figure out who I am and what else I´d like to do – on my own!“)

Mehr über die Experten:

Professor Dr. Moritz Daum ist Professor für Entwicklungspsychologie des Säuglings- und Kindesalters am Psychologischen Institut und Direktor des Jacobs Center for Productive Youth Development, beides an der Universität Zürich. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählt die sozial-kognitive Entwicklung in der frühen und mittleren Kindheit.

Dr. Cornelia Stöckel ist Psychologin und praktiziert als systemische Familientherapeutin in Graz. Von Jesper Juul wurde sie zur Familien- und Paartherapeutin ausgebildet. Sie gehört einem mobilen Kinderpalliativteam an und unterrichtet angehende Familientherapeuten.

Bücher:

Holger Baumann, Barbara Bleisch, Judith Burkart, Moritz Daum, Günther Fink, Silja Häusermann, Oskar Jenni, Roland Reichenbach, Dieter Rüttimann, Heidi Simoni & Daniel Süss (2024). Kindheit—Eine Beruhigung (O. G. Jenni, Hg.). Kein & Aber.

Jesper Juul: Dein kompetentes Kind. Auf dem Weg zu einer neuen Wertgrundlage für die ganze Familie. rororo 2009.

Virginia Satir: Selbstwert und Kommunikation (Leben Lernen, Bd. 18). Klett-Cotta 2016.

Christine Ordnung mit Georg Cadeggianini: Familie am Tisch. Für ein neues Miteinander – beim Essen und darüber hinaus, Kösel 2023

Online-Artikel:

Jesper Juul: Von Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl. Fritz und Fränzi Das Schweizer ElternMagazin.

Weitere Videos aus unserer Reihe Psychologie Heute Live-Talk:

  • „Schulstress und Leistungsdruck bei Kindern und Jugendlichen“ mit Dr. Arne Bürger und Dipl.-Psychologin Elisabeth Raffauf: Video erscheint im Dezember im PH+ Abo

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