Angefangen hat es mit „#heimkommen“, dem Werbespot von Edeka zum Weihnachtsfest 2015, über 70 Millionen Mal haben sich Menschen das Video seitdem auf YouTube angeschaut. Darin geht es um einen älteren Mann, der seinen eigenen Tod vortäuscht, damit die Kinder an Weihnachten nach Hause kommen. Seitdem hat sich daraus ein eigenes Genre an Weihnachtswerbespots von Lebensmittelketten entwickelt. Herr Dr. Heller, Sie haben diese Filme analysiert – was haben sie gemeinsam?
Die Filme sind relativ kurz – zwischen zwei bis vier Minuten – und handwerklich sehr gut gemacht. Wenn man das Storytelling oder den Einsatz von Licht und Musik betrachtet, muss man sagen: Das genügt höchsten cineastischen Ansprüchen. Trotzdem sind es keine Kunstwerke. Denn Kunstwerke sind deutungsoffen und motivieren uns, für eine andere, bessere Welt einzutreten. Diese Werbespots hingegen – das kann ihnen auch gar nicht zum Vorwurf gemacht werden – haben ein ganz konkretes, monetäres Ziel vor Augen. Sie möchten, dass wir unsere Lebensmittel im entsprechenden Supermarkt kaufen. Damit das geschieht, wird in den Filmen auch kein spezifisches Produkt beworben. Sondern es wird versucht, die jeweilige Marke mit Gefühlen zu verknüpfen. Dies geschieht mit der wohl ältesten Kulturtechnik der Menschheit: dem Erzählen von Geschichten.
In manchen der Clips geht es ja um recht anspruchsvolle Themen.
Vordergründig drehen sich die Spots um ganz unterschiedliche Themen, die die Gesellschaft bewegen: Klimaerwärmung, KI, Umgang mit den Coronabeschränkungen. Auch Armut, Einsamkeit, Zuwanderung und Krieg stehen im Fokus. Das ist auf den ersten Blick recht vielschichtig und an aktuellen Herausforderungen ausgerichtet. Aber wenn man etwas tiefer schaut, ist bei jedem Spot der Fluchtpunkt die Familie.
Die Familie als Ort der Erlösung – das empfinden an Weihnachten vermutlich nicht alle Menschen so.
Ja, und dies gilt auch und gerade, wenn vordergründig andere Themen im Blick sind. Ein gutes Beispiel bietet „Drip, der Schneetropfen“, ein Film von Edeka aus dem Jahr 2021. Hier geht es um einen Regentropfen, dem es trotz aller Bemühungen wegen zu hoher Temperaturen nicht gelingt, zur Schneeflocke zu werden. Am Ende des Clips zerplatzt er an einer Scheibe. Da geht es auf den ersten Blick natürlich um Klimaerwärmung. Aber hinter der Fensterscheibe sitzt dann doch wieder die glückliche Familie, die am Weihnachtstisch ihre Brötchen und ihre Möhren vom Lebensmitteleinzelhandel genießt.
Sie haben soeben den Begriff „Erlösung“ verwendet. Religionspädagogisch sprechen wir mitunter auch von „Familie als Religion“. Ich würde sogar noch schärfer formulieren: In diesen Weihnachtswerbespots gibt es eine Verabsolutierung der Familie. Denn der einzige normative Bezugspunkt in diesen Filmen ist die Familie – und damit die an Weihnachten zusammenkommt, muss man alles überwinden. Tausende von Kilometern Anreise – für die Narration kann die Entfernung gar nicht groß genug sein. Nachhaltigkeit? Egal! Und selbstverständlich darf man auch die eigenen Kinder anlügen, um alle an einen Tisch zu bringen. Exemplarisch hierfür steht der sehr erfolgreiche Clip „#heimkommen“, den Sie ja bereits angesprochen haben. Auch der Film „PENNY macht Weihnachtswunder wahr – Familie Hellmann“ ist hier sehr deutlich.
Dieses Interview ist eine ausführliche Version des Editorials aus Psychologie Heute 12/2024 So wird es leichter mit den Eltern.
Welche Art von Familie sehen wir da?
In den meisten Filmen gibt es ein sehr eng umrissenes Familienbild. Es geht um Heranwachsende und um ihre leiblichen Eltern, ergänzt mitunter um leibliche Großeltern. Das bezeichnen wir im Alltag oft als Kernfamilie – und die ist in den Spots zumeist bürgerlich, heteronormativ und am Ende immer glücklich. Für mich ist Familie anders definiert: Familie ist überall dort, wo im Rahmen eines Zusammenlebens Verantwortung für heranwachsende Menschen übernommen wird. Dazu zählen zum Beispiel auch sogenannte Regenbogenfamilien. Das gleiche gilt, wenn Kinder in getrennten Haushalten aufwachsen oder mithilfe der Großeltern betreut werden. Und selbstverständlich gibt es Familie auch in komplizierten und schweren Zeiten, es gibt Familie auch ohne Happy End.
Warum überhaupt die Inszenierung dieser traditionellen Familie?
Das entspricht den Mechanismen der populären Kultur. Populäre Kultur greift auf, was üblich ist bzw. was allgemein erwartet wird. Das kennen wir aus Kinofilmen: Hollywood „produziert nur die Kekse, die auch gegessen werden“, hat der Regisseur Paul Verhoeven einmal gesagt. Mit Blick auf die Werbespots: Ihr Familienbild ist offenbar gängig bzw. allgemein erwartet – also wird es auch gezeigt. Und dies wirkt wiederum auf unsere Gesellschaft zurück und stärkt entsprechende Vorstellungen. Die Bedeutsamkeit dieses Kreislaufes kann kaum überschätzt werden, über 70 Millionen YouTube-Aufrufe allein bei „#heimkommen“ zeigen ganz sicher Wirkung. Dabei kann Familie auch anders gedacht werden. Nur wäre dies dann eben strittig und die Spots würden weniger geschaut – auch weil die zu erwartenden Kontroversen, die marketingstrategisch eigentlich gern initiiert werden, nicht zum allgemeinen Wunschbild eines friedvollen Weihnachtsfestes passen.
Und warum dient ausgerechnet die Familie als Erlösungspunkt?
Für mich ist das ein Säkularisierungsphänomen. Wir leben in einer Gesellschaft, in der das Christentum in vielerlei Hinsicht an Bedeutung verloren hat und weiterhin verliert. Gleichzeitig bleibt aber eine Sehnsucht nach Orientierung und Erlösung. Wir wünschen uns einen roten Faden in diesem komplizierten, chaotischen Leben. Manche Menschen finden diesen Halt im Fußball, manche im Kinofilm, manche in Verschwörungstheorien und sehr viele in der Familie. Das entsprechende Phänomen „Familie als Religion“ ist daher auch noch recht jung.
Meine Einschätzung: Diese Verabsolutierung entwickelt sich erst seit den 1950er Jahren – getrieben unter anderem durch die rasante Entwicklung der populären Kultur und eben gegenläufig zur stetig steigenden Konfessionslosigkeit und -freiheit. Final führt dies mit Blick auf die Spots nun dazu, dass sich die Deutungshoheit über Weihnachten verschoben hat. Denn mit Blick auf die Zugriffszahlen wird die Weihnachtsbotschaft mittlerweile offensichtlich weniger von den Kirchen, als vielmehr vom Lebensmitteleinzelhandel verkündigt. Und wir feiern ganz offenbar nicht mehr, dass Gott in Jesus Christus Mensch wurde, sondern wir feiern die Familie – und dabei auch noch eine sehr spezifische, eng umrissene Form von Familie. Das sind spannende Verschiebungen, die theologisch zu denken geben.
Das belegt das Familienleben natürlich auch mit sehr hohen Erwartungen.
Ja – und die sind oft unerfüllbar. Zugleich sind die Spots diesbezüglich, abgesehen von Allgemeinplätzen, wenig hilfreich. Die sagen einfach: Jetzt ist Weihnachten. Jetzt müsst ihr aber! Jetzt müsst ihr zusammenkommen, egal was zwischen euch lag. „Aggressiv inklusiv“ wird das mitunter in der Literatur genannt. Letztlich lässt sich an solchen Erwartungen nur verzweifeln. Nochmals besonders problematisch ist das sicher für Menschen, die in toxischen Familienbeziehungen leben oder in Scheidung. Oder auch für Familien, die einen Todesfall verarbeiten müssen. Nebenbei: Der Lebensmitteleinzelhandel hätte ja durchaus wirksame Instrumente, um Familien zu schützen. Denn was Familien vermutlich mit am meisten schadet, sind Zucker, Fett und Alkohol. Aber das ist natürlich undenkbar: diese Sortimente zu reduzieren oder gar durch gesündere Lebensmittel zu ersetzen.
Im Mittelpunkt der Spots steht häufig das Abendessen am 24. Dezember.
Genau, und hier sind die Lebensmittel aus dem Supermarkt passenderweise unverzichtbar. Die Bedeutung von Weihnachten als Fest, an dem wir eine spezifische Form von Familie feiern, wird damit nochmals sehr deutlich. Es muss zumindest diese eine „Inkarnation“ beziehungsweise „Fleischwerdung“ geben: Die Familie wird „realpräsent“ in Form dieses zentralen Abendessens, mit allem, was dazugehört, einkaufen, den Tisch festlich decken, den Raum dekorieren, den Baum schmücken. Was weithin fehlt, sind Ideen, Weihnachten anders zu feiern. Wir könnten zum Beispiel zusammen wandern gehen, das könnte einiges an Druck rausnehmen. Ich war Weihnachten mal mit Freundinnen und Freunden im Kino. Manche Kirchengemeinden bieten am 25. Dezember ein gemeinsames Essen an – all das sind alternative Formen des Festvollzugs, die uns in dieser sensiblen Zeit entlasten können.
PD Dr. Thomas Heller ist Privatdozent für Religionspädagogik an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. In seinem Aufsatz „Zeit, sich zu versöhnen“ hat er die populären Weihnachtswerbespots des Lebensmitteleinzelhandels als Herausforderung und Chance für den Ethik- und den Religionsunterricht untersucht.
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