Antworten auf die wichtigsten Chat-Fragen zu Essstörungen bei Jugendlichen

Nach dem Live-Talk: Kinder- und Jugendpsychiaterin Legenbauer und Familientherapeutin Hümpfner geben Antworten auf Ihre offen gebliebenen Fragen

Ein dünnes Mädchen sitzt im Bikini auf einem Felsen am Meer
Viele Mädchen und junge Frauen wollen einen schlanken Körper haben © Carol Yepes/Getty Images

Essstörungen sind weit verbreitete psychische Erkrankungen, die schwerwiegende psychische, soziale und körperliche Beeinträchtigungen mit sich bringen können. Was sind die Ursachen, was die auslösenden Faktoren für Magersucht, Bulimie und Binge-Eating-Störung? Wie lässt sich eine lange Wartezeit auf einen Therapieplatz überbrücken? Was können Eltern, Lehrkräfte und Sozialarbeiterinnen für die Heranwachsenden tun, um sie zu unterstützen?

Über diese Fragen hat Psychologie Heute-Chefredakteurin Dorothea…

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Essstörungen sind weit verbreitete psychische Erkrankungen, die schwerwiegende psychische, soziale und körperliche Beeinträchtigungen mit sich bringen können. Was sind die Ursachen, was die auslösenden Faktoren für Magersucht, Bulimie und Binge-Eating-Störung? Wie lässt sich eine lange Wartezeit auf einen Therapieplatz überbrücken? Was können Eltern, Lehrkräfte und Sozialarbeiterinnen für die Heranwachsenden tun, um sie zu unterstützen?

Über diese Fragen hat Psychologie Heute-Chefredakteurin Dorothea Siegle mit Kinder- und Jugendpsychiaterin und -psychotherapeutin Prof. Dr. Tanja Legenbauer und Familientherapeutin Nicola Hümpfner via Zoom gesprochen. In dem 90-minütigen Live-Talk konnten nicht alle Fragen der Zuschauerinnen und Zuschauer beantwortet werden. Wir haben die häufigsten Chat-Fragen zusammengefasst und sie den beiden Expertinnen im Nachgang gestellt – hier sind ihre Antworten.

Risikofaktoren und Auslöser

Können traumatische Erlebnisse wie beispielsweise sexueller Missbrauch eine Essstörung auslösen?

Legenbauer: Ja. Sexueller Missbrauch ist ein unspezifischer Risikofaktor, der bei vielen psychischen Erkrankungen als auslösendes oder zugrundeliegendes Ereignis beschrieben werden kann. Bei der Diagnostik muss sehr genau geschaut werden, ob beispielsweise eine starke Gewichtsabnahme, eine Verweigerung zu essen oder Ekel vor dem eigenen Körper auf einen sexuellen Übergriff zurückgehen. Die Essstörung kann dann eine Schutzfunktion haben, die Betroffenen wollen nicht weiblich oder attraktiv für den Angreifer sein. Wichtig ist zu prüfen, ob diese Symptomatik nicht besser von einer Traumafolgestörung wie beispielsweise einer Posttraumatischen Belastungsstörung erklärt werden kann oder ob es sich gegebenenfalls um zwei voneinander getrennte Dinge handelt: Eine Essstörung, die sich eigenständig entwickelt hat und eine Posttraumatische Belastungsstörung zusätzlich zu der Essstörung, also zwei Erkrankungen, die gleichzeitig vorhanden sind und sich möglicherweise auch gegenseitig beeinflussen. Wichtig ist hierbei vor Augen zu haben, dass eine Essstörung nie aus nur einem Grund entsteht, sondern viele verschiedene Faktoren zur Entstehung beitragen – individuelle Erfahrungen wie etwa ein ungünstiges Familiensystem, unsichere Bindungserfahrungen oder auch Traumata gelten dabei als Vulnerabilitätsfaktoren.

Gibt es eine genetische Veranlagung für Essstörungen? Und wenn ja, wie bedeutsam ist eine Prädisposition?

Legenbauer: Bei der Anorexie gibt es eine genetische Veranlagung, wir finden bei Familien, in denen die Mutter oder die Tante eine Essstörung hat, häufiger Kinder und Jugendliche, die dann ebenfalls erkranken. Wir wissen mittlerweile auch, dass Gene, die an verschiedenen Stoffwechselprozessen beteiligt sind, eine Rolle spiele. Insgesamt ist auch hier deutlich – allein eine familiäre Vorbelastung durch eine Essstörung ist nicht ausschlaggebend, sondern auch Umwelteinflüsse spielen eine wichtige Rolle.

Verweigerung des Kindes

Was können Eltern tun, die ein problematisches Essverhalten beobachten, aber das Kind verweigert sich jeder ärztlichen Untersuchung und Diagnose?

Hümpfner: Das passiert recht häufig und ist für die Eltern sehr belastend. Das Verhalten der Eltern hängt davon ab, wie alt das Kind ist. Bei Volljährigkeit kann man fast nichts anderes tun, als immer wieder das Gespräch zu suchen, aber bitte nicht beim Essen oder wenn ich als Vater oder Mutter gerade selbst emotional aufgewühlt bin. Sondern in einer entspannten und ruhigen Atmosphäre, vielleicht auf einem Spaziergang oder bei Aktivitäten, die man gerne gemeinsam unternimmt. Ist das Kind minderjährig, ist man ganz anders in der Verantwortung, dann würde ich als erstes auf einen Termin beim Kinderarzt bestehen, damit mindestens die Vitalwerte des Kindes überprüft werden. Als Laie kann man nämlich nicht beurteilen, ob eine Erkrankung vorliegt. Der Kinderarzt kann dann aufgrund einer körperlichen Diagnose wie zu geringes Körpergewicht oder zu niedrige Kaliumwerte eine Einweisung in eine Klinik oder ein Krankenhaus anordnen. Und dann sollten die Eltern mit dem Kind ein Helfernetz aufbauen, etwa mit dem Kinderarzt, einer Therapieeinrichtung, einer Ernährungsberatung.

Schwieriges Essverhalten

Wie verhält man sich als Eltern eines 9-jährigen Jungen, bei dem sie einen Kontrollverlust beim Essen wahrnehmen und der nur ganz bestimmte Dinge essen will?

Hümpfner: Ich frage mich, was für ein Bedürfnis bei dem Jungen hinter dem Verhalten steht. Steckt da eine Emotionsregulationsstörung dahinter? Oder eine atypische Essstörung? Kompensiert er mit essen einen gefühlten oder tatsächlichen Mangel an Zuwendung? Eltern können mit ihrem Verhalten eine Essstörung durchaus befördern. Oder steht ein Phänomen wie das „Picky Eating“ dahinter und das Kind kann im Extremfall die Erbsen einer ganz bestimmten Marke verlangen und die Eltern im Viereck tanzen lassen. auf alle Wünsche eingehen. Dann könnte eine Co-Abhängigkeit vorliegen, bei der die Eltern regelmäßig über ihre Grenzen gehen, damit das Kind bloß alles hat, was es will. Jesper Juul sagte, man könne als Eltern dem Kind jeden Tag Nudeln mit Tomatensauce kochen, sofern man das wolle. Nervt es einen aber, sollte man es lassen. Ein klares Ja, oder ein klares Nein.

Kriterien für eine Klinikeinweisung

Ab wann ist eine Klinikeinweisung bei Anorexie geboten?

Legenbauer: Das Hauptkriterium ist ein sehr niedriger BMI (Body-Mass-Index), da dieser körperlich bedrohlich ist. Bei Kindern und Jugendlichen ist das beispielsweise ein BMI unter der 3. Alters-Perzentile. Manchmal ist aber auch eine körperliche Bedrohung vorhanden ohne, dass ein extrem niedriges Gewicht vorliegt, wenn sehr schnell sehr viel abgenommen wird. Für eine Aufnahme ist also wichtig, dass eine körperliche Gefährdung besteht, wenn weiterhin an Gewicht abgenommen wird. Weitere Aspekte betreffen die Motivation der Betroffenen - wenn z.B. zu Hause die Konflikte um das Essen zu groß werden und die Nahrungsaufnahme nicht sichergestellt ist. Oder wenn zusätzlich zu der Essstörung noch weitere psychische Problembereiche bestehen wie Depressivität, die Betroffenen eigentlich nicht mehr leben wollen oder stark ausgeprägte Zwänge bestehen und die Alltagsfunktionalität sehr eingeschränkt ist, dann würde dies auch für einen Klinikaufenthalt sprechen. Bei ausreichender Motivation der Patientin und Vertrauen der Eltern in die eigenen Fähigkeiten, ihr Kind ggf. weiter zuhause zu betreuen, kann bei körperlicher Stabilität trotz eines niedrigen Gewichts zunächst ein ambulanter Behandlungsversuch erfolgen.

Verlassen des Elternhauses

Kann es für eine essgestörte Teenagerin hilfreich sein, das Elternhaus zu verlassen und zu einer Verwandten zu ziehen, um die Wartezeit auf einen Therapie- oder Wohngruppenplatz zu überbrücken?

Hümpfner: Aus dieser Frage höre ich die große Not und Unsicherheit der Angehörigen heraus. Die Frage lässt sich nicht eindeutig beantworten, weil es eben immer auf den Einzelfall ankommt und auf die spezifischen Umstände, was die Krankheit und die familiäre Situation anbelangt. Ich würde in diesem Fall empfehlen, eine auf Essstörungen spezialisierte Familienberatung wie ANAD e.V. aufzusuchen, um für jeden Einzelfall eine passgenaue Lösung zu finden. Allerdings können kreative Lösungen häufig hilfreich sein, besonders wenn eine Wartezeit überbrückt werden muss, die für alle sehr belastend sein kann.

Soforthilfe bei Binge-Eating-Störung

Eine erwachsene Frau leidet unter einer Binge-Eating-Störung. Gibt es eine Sofortmaßnahme, die sie im Affekt-Modus anwenden kann, um einen Essanfall abzuwenden?

Legenbauer: Wichtig ist, die Situation möglichst zu unterbrechen und den Drang zu essen aufzuschieben. Eine geeignete Übung hierfür ist das Urge Surfing, bei der man sich das Verlangen wie eine hohe Welle vorstellt, die man hinaufsegelt und dann wieder hinabgleitet. Man kann diese Methode unter therapeutischer Anleitung lernen oder anhand von Selbsthilfe-Literatur. Sie eignet sich auch bei Jugendlichen. Empfehlenswert ist etwa das Buch: Das Leben verschlingen? Hilfe für Betroffene mit Binge-Eating-Störung.

Therapiemethoden

Was ist von Therapien mit virtueller Realität zu halten, bei der VR-Brillen zum Einsatz kommen?

Legenbauer: Therapien mit Virtual Reality sind noch lange nicht in der Versorgungslandschaft angekommen, ihre Wirksamkeit muss sehr genau analysiert werden, um sie auf die praktische Anwendung bei Patientinnen und Patienten übertragen zu können. Prinzipiell finde ich diese neue Form der Therapie sehr innovativ und gut geeignet, um beispielweise die Angst vor einer Gewichtszunahme zu reduzieren. Weil die an einer Essstörung Erkrankten immer im Hinterkopf haben: Der normalgewichtige Körper ist unerträglich und fett. Mithilfe spezieller virtueller Therapie-Programme kann man mit den Betroffenen üben und sie etwa mit ihrem auf Normalgewicht modifizierten Körper konfrontieren. Auch zur Nahrungsexposition, bei der man Lebensmittel gezeigt bekommt, können sie eingesetzt werden. Wir beschäftigen uns gerade auch hier in der Forschungsabteilung mit diesen Techniken und hoffen, damit einen Beitrag zu leisten, VR in den Versorgungsalltag zu übertragen.

Welche körperorientierten Therapien werden bei Essstörungen angewandt? Und wie gut sind diese erforscht?

Legenbauer: Methoden wie Feldenkrais, Yoga, Autogenes Training oder Meditation sind gut geeignet. Zur Wirksamkeit von Yoga und Autogenem Training kenne ich einige Studien, zu Feldenkrais ist mir keine bekannt. Im stationären Kontext wird der multidisziplinäre Ansatz praktiziert, bei dem verschiedene Fachtherapeutinnen und -therapeuten zusammenarbeiten. Im Jugendbereich werden körperorientierte Verfahren eingesetzt, zum Beispiel Psychomotorik, welche die Körperwahrnehmung bei Betroffenen mit Essstörungen verbessern sollen.

Wie sind Ihre Erfahrungen hinsichtlich der Coaching-Methode Focusing bei Essstörungen?

Hümpfner: Dazu kann ich nichts sagen, da ich mit besagter Methode keine Erfahrungen habe. Allgemein gilt, dass eine gelungene Therapie immer das Erlernen des gesunden Essens im Rahmen einer Ernährungstherapie beinhaltet. Die S3-Leitlinien listen alle wissenschaftlich erforschten und wirksamen Therapieverfahren auf.

Begleitende Erkrankungen

Wie häufig folgt auf eine Anorexie selbstverletzendes Verhalten wie Schneiden und wie lässt sich verhindern, dass dieses nicht zum restriktiven Essen hinzukommt?

Legenbauer: Selbstverletzendes Verhalten ist erst einmal kein Symptom einer Essstörung, sondern ein zusätzliches Symptom einer nichtfunktionalen Emotionsregulation. Es zeigt, dass es der oder dem Betroffenen sehr schlecht geht, da starke negative Gefühle vorhanden sind, die zusätzlich zur Essstörung über Selbstverletzung reguliert werden. Es gibt keinen direkten Zusammenhang zur Anorexie. Der oder diejenige hat nicht die Fähigkeit, Emotionen ohne Selbstschädigung zu regulieren. Davon ist laut Studien insgesamt jede oder jeder vierte Jugendliche hierzulande betroffen.

Ist es normal, dass die Regel einer 17-Jährigen ein dreiviertel Jahr ausbleibt? Das behauptet die behandelnde Frauenärztin.

Legenbauer: Diese Frage lässt sich nicht allgemein beantworten, dazu müsste ich den gesamten Zusammenhang und die genaue Diagnose der Patientin kennen. Welche Erklärung führt die Gynäkologin an, die das Ausbleiben der Regel plausibel erklären kann? Besteht hierbei Unklarheit, kann ich nur empfehlen, eine Zweitmeinung bei einer weiteren Gynäkologin einzuholen.

Aktueller Forschungsstand

Welche neuen und interessanten Forschungsbereiche gibt es derzeit?

Legenbauer: Es gibt eine Vielzahl von Studien, ich greife nur einige Ansätze heraus: Bemerkenswert ist die Erforschung der Rolle des Darm-Mikrobioms im Zusammenhang mit der Entwicklung und Aufrechterhaltung von Essstörungen. Interessant ist auch die Erforschung des Home-Treatments, bei dem die Patientinnen auch in ihrem häuslichen Umfeld therapiert werden. Der aus dem Englischen stammende Ansatz des Family Based Treatment ist sehr vielversprechend und wird in modifizierten Formen (beispielsweise durch zusätzliche Elternschulungen zur Reduktion essensbezogener Ängste) in Essenssituationen in Ergänzung zu den familienbasierten Gesprächen, gerade untersucht.

Prävention

Kann man Essstörungen gezielt vorbeugen?

Legenbauer: Es gibt sehr viele Studien zur Prävention von Essstörungen und auch wunderbare Präventionsprogramme. Im Kern geht es um die Etablierung eines gesunden Selbstwertgefühls, das unabhängig von bestimmten Idealen der Figur und des Gewichts besteht. Das Kind oder die Jugendliche, wird von den Eltern in seinem oder ihrem Erleben gestärkt, sie erhalten ernstgemeinte Komplimente und ehrliche, offene Zuneigung. Eltern sollten das offene Gespräch mit ihren Kindern suchen und auch Zeit einplanen für gemeinsame Unternehmungen oder Spielen. Gemeinsame Mahlzeiten bieten die Möglichkeit, sich auszutauschen und darüber zu reden, wie es einem gerade geht. Konfliktthemen sollten bei Mahlzeiten vermieden werden.

Ein wichtiger Baustein der Prävention ist der bewusste und wohldosierte Umgang mit den Medien. Was sind gefährliche Botschaften und wie werden Schönheitsideale geprägt? Heranwachsende suchen sich ihre Vorbilder in den sozialen Medien, das ist ganz normal. Nur sollten sie lernen, diese kritisch zu hinterfragen und darüber zu reflektieren, was das mit ihnen macht.

Body-Positivity

Was halten Sie von Body-Positivity, ist das ein guter Gegenimpuls oder birgt sie das Risiko neuer Stigmatisierung?

Hümpfner: Ich sehe beides. Aber natürlich ist Body Positivity besser als Body-Shaming. Beide Ansätze fixieren sich auf den Körper, auch wenn erstgenannter mit eher runderen Formen und Körperakzeptanz einhergeht. Wenn man es ganz kritisch beleuchteten will, ist Body Positivity mit seiner guten Absicht auch wieder eine Thematisierung des Körpers und des Aussehens. Dennoch ist diese Bewegung besser als etwa #Thinspiration oder Websites wie Pro-Ana, die das Hungern feiern.

Sprechen mit Betroffenen

Wie spricht man mit einer Betroffenen, die Fotos von sich in den sozialen Medien postet, um Likes und Anerkennung zu bekommen? Und die auf Nachfrage sagt: Ich mache das nur für mich.

Hümpfner: Das ist nicht so einfach zu beantworten, das verhält sich ähnlich wie bei einer Person, bei der ich den Eindruck einer Essstörung habe und die entgegnet: Alles ok, ich habe das im Griff. Ich würde versuchen, mit der Jugendlichen im Gespräch zu bleiben und meinen persönlichen Eindruck zu schildern. Etwa, dass ich das Gefühl habe, dass sie Fotos von sich ins Netz stellt, auf denen sie ihre Schlankheit herausstellt. Diese Generation kennt ja alle Tricks der Fotobearbeitung durch Filter und so weiter. Von Verboten halte ich generell nichts, sie sind wirkungslos.

Unterstützung in der Krise

Die Therapie von Essstörungen ist mitunter langwierig und für Eltern psychisch äußerst belastend, da die Heilung auf sich warten lässt und auch Rückfälle eintreten können. Was fördert die Geduld der Eltern?

Hümpfner: Ich kläre die Eltern anfangs auf: Die Genesung Therapie ist voraussichtlich kein Sprint, sondern möglicherweise ein Dauerlauf! Ich vergleiche manchmal die Diagnose Essstörung mit einer Krebserkrankung, da würden Eltern ja auch nicht sagen: Meine Tochter ist gerade in der elften Klasse, deshalb muss sie nach zwei Wochen Klinikaufenthalt wieder in die Schule gehen. Sind die Eltern überhaupt nicht bereit, den ganzen Therapieprozess zu begleiten und zu akzeptieren, dass der sehr lange dauern kann, muss man klare Worte finden.

Was unterstützt die Eltern?

Hümpfner: Damit sie diese fordernde Zeit bewältigen können, braucht es zwingend Selbstfürsorge. Man muss als Therapeut oder Therapeutin den Eltern Hoffnung machen und sie aufklären, dass es eine vollständige Genesung bei Essstörungen gibt. Eltern sind meiner Erfahrung nach häufig getrieben von Schuldgefühlen, deshalb muss man ihnen sagen: Es darf ihnen gut gehen. Sie dürfen Sport machen, verreisen, lachen und unbeschwerte Momente erleben, auch wenn ihr Kind schwer erkrankt ist.

Können Glaube und Spiritualität Betroffenen helfen?

Hümpfner: Natürlich kann einem gläubigen Menschen der Glaube helfen. An einer Essstörung Erkrankte brauchen ein Ziel, wofür es sich lohnt, gesund zu werden. Und wenn das der Glaube ist – wunderbar. Hat jemand die Vision, ein Jahr in Australien zu verbringen oder auch wieder Spaß im Leben zu haben, auch gut. Das Beten ersetzt selbstredend nicht die Therapie, man kann sich nicht gesundbeten. Dennoch ist eine begleitende Therapie unerlässlich.

Mehr über die Referentin Professorin Dr. Tanja Legenbauer

Legenbauer ist Psychologie-Professorin und Leiterin der Forschungsabteilung LWL Universitätsklinik Hamm der Ruhr-Universität Bochum, Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik. Ihr Schwerpunkt liegt auf Gewichtsregulationsstörungen, Körperbildstörungen und impulsivem Verhalten.

Mehr über die Referentin Nicola Hümpfner

Hümpfner leitet den Bereich „Kinder und Jugendliche“ bei ANAD e.V., einem Versorgungszentrum für Essstörungen in München. Sie ist Systemische Einzel-Paar- und Familientherapeutin auch in eigener Praxis. Hümfpner hält Vorträge über die Krankheit und berät Angehörige.

Literaturempfehlungen der Expertinnen

Brunna Tuschen-Caffier, Anja Hilbert: Ratgeber Binge-Eating-Störung: Informationen für Betroffene und Angehörige. Hogrefe, 2022

Jesper Juul: Was gibt’s heute?: Gemeinsam essen macht Familie stark. Beltz, 2016

Anke Nolte: Essstörungen. Hilfe bei Anorexie, Bulimine und Binge-Eating. Stiftung Warentest, 2013

ITZI und Anad e.V: Warum sehe ich nicht so aus? Fernsehen im Kontext von Essstörungen. Kostenloser Download