Wir alle wissen, dass unsere Eltern irgendwann sterben. Warum kommt die Elternlosigkeit dann trotzdem bei vielen „als schockierendes Ereignis um die Ecke“, wie Sie in Ihrem Buch schreiben?
Wenn die eigenen Eltern sterben, ist die Kindheit endgültig und unwiderruflich vorbei. Auch wenn wir es natürlich auf einer Ebene bereits lange wissen und uns entsprechend im Alltag verhalten: Jetzt sind wir erwachsen. Es gibt niemanden mehr, der uns mit den vertrauten Augen einer Mutter oder eines Vaters anschaut. Plötzlich ist man niemandes Kind mehr. So wie die Eltern mit uns gesprochen haben, wird nie wieder jemand mit uns sprechen.
Die Menschen, die uns das Leben geschenkt haben, die uns in den meisten Fällen im Großwerden begleitet und unsere Grundbedürfnisse erfüllt haben, fehlen. Ein Stück Vergangenheit geht mit ihrem Tod verloren. Ist das letzte Elternteil gestorben, so wird uns jäh bewusst, dass wir die Nächsten in der Generationenfolge sein werden, die sterben. Die eigene Endlichkeit rückt ins Bewusstsein, und es wird Zeit, sich mit ihr auseinanderzusetzen und diesen Wendepunkt zu gestalten.
Welche Strategien nutzen Menschen, die ihre Eltern verloren haben, um die Trauer zu bewältigen?
Das hängt in erster Linie davon ab, wie die Beziehung zwischen Kindern und Eltern zu Lebzeiten war. War sie emotional stabil, fühlen sich die Kinder emotional gut genährt von Mutter und Vater, sind alte Konflikte und Verletzungen besprochen und befriedet, so kann meist ein „gesunder Trauerprozess“ stattfinden. Der Tod der Eltern kann dann nach einer individuellen Zeitspanne akzeptiert und das eigene Leben neu ausgerichtet werden.
Ist die Beziehung zu den Eltern belastend, instabil und konflikthaft gewesen, so gestaltet sich der Trauerprozess meist schwierig. Töchter und Söhne bleiben zurück mit einem Gefühl des emotionalen Mangels. Bereits zu Lebzeiten der Eltern haben sie nicht das bekommen, wonach sie sich so sehr gesehnt haben. Jetzt ist jegliche Chance vertan, das innere Konto doch noch aufzufüllen, Konflikte und Missverständnisse zu befrieden oder das Ungesagte noch zu sagen.
Die erwachsenen Töchter und Söhne können ihre Wut, ihre Trauer, ihre Verzweiflung nicht mehr auf die Eltern richten. Sie bleiben mit all dem Ungelösten im Herzen zurück. So sind die Kinder mit ihren verstorbenen Eltern auf eine blockierende Weise über den Tod hinaus verbunden: Die Toten dürfen nicht gehen. Es ist ja noch nicht alles geklärt. Und die Lebenden können sich nicht vollständig dem Leben zuwenden.
Was brauchen Menschen, um diesen Verlust zu bewältigen? Wie kann man ihnen beistehen?
Der Umgang mit trauernden erwachsenen Kindern braucht zunächst eine Offenheit in Bezug auf den Zeitrahmen. Wir müssen uns freimachen von inneren Konzepten, gesellschaftlichen Vorstellungen und Normen, wie lange ein solcher Trauerprozess dauern darf. Manchmal sind es Wochen, manchmal sind es Jahre. Manche Menschen begleitet die Trauer ein Leben lang. Und manchmal braucht es einen langen Atem, um sie zu begleiten.
Erwachsene, die bis zum Tod der Eltern ihre eigenen Kindheitserfahrungen nicht hinreichend befrieden konnten und noch immer ein Gefühl des Mangels, der Wut, der Traurigkeit in sich tragen, benötigen eine Begleitung mit einer Offenheit für ihre ambivalenten Gefühle. Die innere Zerrissenheit zwischen Befreiung und dem Schmerz des Verlustes erfordert Geduld und manchmal eine professionelle Begleitung.
Antje Randow-Ruddies ist systemische Familientherapeutin, Supervisorin und Organisationsentwicklerin (DGSF), Hypnotherapeutin, Paar- und Sexualtherapeutin in eigener Praxis in Hamburg.
Literatur
Antje Randow-Ruddies’ Buch Verlust der alten Eltern. Begleitung von Trauerprozessen bei Erwachsenen ist bei Vandenhoeck& Ruprecht erschienen (125 S., € 18,–).