Frau Hahn, viele Eltern kommen im Umgang mit ihren Kindern gelegentlich an persönliche Grenzen. Was können Väter und Mütter tun, wenn sie in einer stressigen Alltagssituation verzweifeln, weil sie nicht so liebevoll und zugewandt sind, wie sie sich das wünschen?
Eltern sind biologische Wesen und keine Maschinen, die von sich Perfektion verlangen können. Entgegen dem über Generationen erlernten Anspruch, man müsse sich nur anstrengen, um es „richtig zu machen“, kann es hilfreich sein, das momentane emotionale Chaos zu akzeptieren – mit einem liebevollen und gütigen Blick auf sich selbst.
Neue Forschungsergebnisse belegen, dass der vordere Vagusnerv eine wichtige Rolle spielt, um Emotionen zu regulieren. Er ist der größte Nerv des parasympathischen Nervensystems, der viele Körperfunktionen und unsere unbewussten sozialen automatischen Reaktionen steuert.
Wenn in Stresssituationen unser Kampf- und Fluchtverhalten aktiviert ist, kann der Vagusnerv dafür sorgen, dass wir uns wieder beruhigen. Das Training der Selbstberuhigung beginnt früh, wenn aufgeregte Kinder in einer sicheren Beziehung Beruhigung erfahren können. Aber auch im erwachsenen Alter kann Selbstberuhigung noch nachtrainiert werden über bewusste Körperwahrnehmung durch Feedback in sicheren sozialen Situationen.
Sie raten in Ihrem Buch dazu, den Kontakt mit dem Kind in Konfliktsituationen zu halten. Wie kann das gelingen, wenn man genervt und gestresst ist?
Wenn das Kind anders will als seine Eltern, sollten sich diese zunächst durch Selbstfürsorge beruhigen. Hierfür ist es hilfreich, dass man lernt, die oft automatisch einsetzende Selbst- und Fremdverurteilung zu stoppen. Wenn sowohl Eltern als auch das Kind sich wieder beruhigt haben, ist es überhaupt biologisch erst möglich, einen Konflikt kooperativ zu lösen.
Manchmal geht es in der Erziehung auch darum, den Willen eines Kindes zu begrenzen, was häufig mit einem Protest des Kindes einhergeht. Dies erfordert von den Eltern die Fähigkeit, seinen Frust anzuerkennen und empathisch zu begleiten, ohne seinen Wünschen stattzugeben. In einem gestressten Zustand sollten Eltern lieber gleich dem Willen des Kindes nachgeben, statt diesen erst zu begrenzen – und dann doch noch erschöpft zuzustimmen.
Eltern, die gelernt haben, wie sie sich selbst beruhigen können, sind auch besser in der Lage, ein vom Nein enttäuschtes Kind zu begleiten. Ein klares Nein ist mit einer psychischen Kraftanstrengung verbunden. Es braucht eine überlegte Vorbereitung im Inneren und wird dadurch seltener, aber klarer angewendet.
Was kann ich konkret tun, um mich selbst zu beruhigen in einem Moment, in dem mich mein Kind zur Weißglut bringt?
Eltern sind verantwortlich für ihr Verhalten und ihre Gefühle, nicht das Kind. Neugier für das eigene psychische Betriebssystem hilft Eltern zu erforschen, was sie in der Situation so reagieren ließ, damit sie sich nicht mehr als Opfer ihrer automatischen Handlungen erleben. Sie können etwa trainieren, sich in kritischen Situationen über den Atem zu beruhigen. So signalisiert eine Verlängerung der Ausatmung dem elterlichen Gehirn, dass keine Lebensgefahr besteht – auch wenn das Kind sich nicht anzieht oder den Bruder drangsaliert.
Eine weitere Möglichkeit ist, in der Stresssituation die Aufmerksamkeit auf die Standfestigkeit der eigenen Füße zu lenken. Durch eine aufgerichtete Körperhaltung steigt die Wahrscheinlichkeit, bei sich anzukommen und den Zugang zu seinem inneren Erwachsenen zu finden. Dieser ist am ehesten in der Lage, mit Überblick und eigenem innerem Raum Lösungen zu finden.
Britta Hahn ist Ärztin für Allgemeinmedizin und Mutter von vier Kindern.
Literatur
Britta Hahns Buch Mama, beruhige dich! Wie Eltern ihre Gefühle regulieren und in guter Beziehung zu ihrem Kind bleiben ist bei Junfermann erschienen (208 S., € 24,–).