Was sehen Sie hier, Matthias Lier?

Ein Bild, zwei Fragen: Warum sitzt das Mädchen dort? Und wen schaut sie an? Schauspieler Matthias Lier erzählt, was hier vorgefallen ist.

Die Illustration zeigt eine junge Frau, die lässig in einer Röhre sitzt
Das Mädchen versteckt sich in der Röhre. Aber vor wem? © Andrea Ventura für Psychologie Heute

Er fuhr aus dem Schlaf hoch. Endlich hatte er für einen Moment Ruhe gefunden, nachdem er die letzten zwei Wochen kein Auge zugetan hatte. Denn sie war weg, hatte sich vermutlich eine andere Identität zugelegt, hatte das Band zu ihm abgeschnitten. Er schaute auf die Uhr, sprang auf, nur noch ein paar Augenblicke, dann sollte er sie wiedersehen.

Gestern noch hatte er ein brennendes Streichholz unter die Leinentücher gehalten, in die er sein Wohnzimmer eingefüllt hat. Nur der Mut hatte ihm noch gefehlt. Doch heute, ihr Anruf, ihre Stimme, alle Gefühle der Einsamkeit wie weggeblasen.

Oder war alles nur ein Trick, dachte er sich, als er im Geländewagen durch die Stadt in Richtung des Treffpunktes fuhr, den sie ihm am Telefon zugeflüstert hatte. Er musste plötzlich lachen, als er in das unwegsame Industriegelände abbog, denn es war ihm egal, wenn sie ihn ins Gefängnis bringen sollte. Hauptsache für einen Moment bei ihr sein – wäre es doch das erste ‚Rendezvous‘, das von ihr ausging, wenn auch an einem so schäbigen Ort, der nach Hinterhalt stank.

Vor ihm lag ein zugewuchertes Fabrikgelände mit einem riesigen stählernen Gebäude in der Mitte. Der braune Rost überzog es wie dreckiger Samt. Aus einer der Stahlröhren dort leuchtete ein Lichtstrahl plötzlich in seine Richtung. Ihm schoss das Adrenalin in die Adern. Langsam näherte er sich der Röhre. Das Licht der Taschenlampe war nun komplett auf ihn gerichtet.

Dann erkannte er ihre Konturen: Sie war es tatsächlich, hockte da in einer dieser Stahlröhren. Sie nahm die Taschenlampe runter, blickte ihn stumm an, keine Regung im Gesicht. Er blieb stehen, lächelte, suchte nach den richtigen Worten. „Ich weiß nicht, was dir passiert ist“, sagte sie plötzlich. „Es muss etwas Schlimmes gewesen sein.“ Er konnte auf einmal die Abscheu in ihrem Gesicht lesen, so deutlich, wie es ihm noch nie aufgefallen war, so endgültig.“

Was könnte Ihre Bildbeschreibung mit Ihnen persönlich zu tun haben?

„Mich hat das Bild sofort an die Einsamkeit und Enge meiner Figur in einem Tatort erinnert, in dem ich einen Stalker spiele. Und an die Beziehung meiner Figur zu einer Frau, die er nicht haben kann, die er aber auch nicht aus seinem Kopf kriegt. Neugierig, aber auch vorsichtig bin ich in die mir fremde Welt eingetaucht, und sofort sind bei mir neben den lauten, provozierenden vor allem die leisen, berührenden Töne aufgetaucht.“

Matthias Lier ist Schauspieler in Theater, Film und Fernsehen. Bis zum 8. April ist er in der ARD-Mediathek in dem Tatort Aus dem Dunkel zu sehen.

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 2/2024: Von hier aus kann ich meine Sorgen kaum noch sehen
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