Es ist Montag, acht Uhr. Zeit für die Visite auf Station. Müde sammelt sich das gesamte anwesende Personal im Raum. In einem Stuhlkreis angeordnet finden sich: zwei Oberärzte, fünf Psychotherapeutinnen, vier Pflegekräfte, eine Praktikantin. Ein freier Stuhl. Nacheinander treten die Patientinnen ein. Frau M. ist dran. Im Geheimen nenne ich sie „Gewitterwolke“. Sie hat bei jedem Wetter eine Sonnenbrille auf – und ist in der Gruppentherapie oft wütend über die Lethargie anderer Patientinnen. Frau M. ist Radio-Journalistin und ziemlich witzig. Wenn sie sich angegriffen fühlt, kann sie plötzlich verletzend und laut werden.
Bevor die Patientinnen selbst etwas sagen, werden sie von der behandelnden Person vorgestellt. Es werden die gestellten Diagnosen und einige biografische Details genannt. Die Behandlerin blickt also zwischen Frau M. und dem Oberarzt hin und her, während sie sagt: „Das ist Frau M. Frau M. ist seit Mittwoch aufgrund einer mittelgradigen depressiven Episode bei uns. In den letzten zwei Jahren…“ „Moment“, unterbricht der Oberarzt die Auflistung der im Lebensverlauf gesammelten Defizite, „Frau M.? Ich habe hier Frau B.“ Er beginnt, die Dokumente in dem mobilen Aktenschrank durchzusehen. Akte nach Akte zieht er hervor, um sie dann wieder zurückzustecken. „Entschuldigen Sie“, sagt er zu Frau M. gewandt, „ich bin heute wohl ein bisschen durcheinander“.
Frau M. setzt die Sonnenbrille ab, ein betroffenes Gesicht auf und zieht die Augenbrauen hoch. „Mhm-mhm“, murmelt sie und fragt einfühlsam: „Passiert Ihnen das öfter?“. Nach einer kurzen Stille lachen alle. Auch der Oberarzt. Für einige Sekunden kippt die Hierarchie im Raum. Eine Hierarchie, die viele gar nicht mehr wahrnehmen. Und dennoch: Das Gebäude der Psychiatrie mit den langen weißen Fluren (ich gebe zu, es gibt einige mittelmäßige Kunstwerke) sagt: Hier gibt es Kranke und solche, die sich um sie kümmern.
Steiles Machtgefälle
Bei der Visite sind wir zu zwölft im Raum. Die Patientinnen allein. Wir tragen Namensschilder mit Universitätsabschlüssen an unseren Pullovern. Wir handeln mit einem Auftrag der Krankenkassen, auf Basis dicker Diagnosewerke, nach jahrelanger Schulung. Wir beurteilen die Gesundheit, das Beziehungsverhalten und die Arbeitsfähigkeit. Wir wissen eine Menge über die Patientinnen und diese fast nichts über uns. Dieses Machtgefälle bringt Verantwortung: Das Wissen durch Psychoedukation umzuverteilen, zum Beispiel.
Es ist wichtig, den Behandelten Wissen und Strategien zu vermitteln, sich selbst zu helfen. Wir müssen uns dabei an den Zielen der Patientinnen ausrichten – und fundierte Methoden wählen. Wir haben eine Dokumentations- und eine Schweigepflicht. Die Qualität der Behandlung stellen wir Tag für Tag sicher, egal wie motiviert, glücklich oder gesund wir heute sind. Solange das Ungleichgewicht transparent und zielgerichtet ist, kann ich damit leben. Ich erlebe sogar, dass Patient*innen für eine Weile Halt darin finden können.
Trotzdem ist es immer wieder eine Freude, wenn diese Dynamik durchbrochen wird. Wenn ein Yogalehrer in der Psychoedukationsgruppe sitzt und die Atemübungen nochmal anders vormachen kann. Wenn die entscheidende Frage in der Gruppentherapie von einer Mitpatientin kommt. Oder wenn Frau M. die therapeutische Art persifliert und fragt: „Passiert Ihnen das öfter?“.
Transparenz-Hinweis: Es gibt keine Therapeutin ohne Patientinnen –- deshalb erzählt diese Kolumne von Menschen in der Psychiatrie. Da der Schutz der Behandelten an oberster Stelle steht, werden die Fallbeispiele bezüglich ihrer soziodemographischen und biografischen Daten stark verändert und erscheinen mit zeitlichem Abstand. Die berichteten Begegnungen ereignen sich in unterschiedlichen Ausbildungskontexten. Sie bleiben in ihrem emotionalen Kern erhalten.