Grenzenlos überfordert

Therapiestunde: ​Eine Lehrerin leidet unter ihrem hohen Anspruch. Wie kann sie lernen, sich selbst nicht zu überanstrengen? ​

Eigene Grenzen und die anderer zu wahren schützt vor Überforderung. © Michel Streich

Die gepflegte, sportlich gekleidete Frau vor mir antwortet sehr ausführlich auf meine Frage, was sie zu mir führt: „Ich arbeite als Lehrerin an einer Schule für behinderte Menschen, und ich merke, wie mir die Gedanken an die einzelnen Schüler allmählich den Schlaf rauben. Schon lange kann ich nicht mehr schlafen, und ich war auch für viele Wochen in einer Klinik, wo mir geraten wurde, mit dieser Arbeit aufzuhören, weil auch mein Bluthochdruck damit verbunden sei. Aber was soll ich dann machen? Mir bliebe ja nur, mich versetzen zu lassen, und zwar am besten an eine Grundschule für gesunde Kinder. Aber mir tun die kranken so leid. Ich kann sie nicht einfach allein lassen.“

„Wären sie denn allein? Hätten sie keine andere Lehrerin an ihrer Seite?“, werfe ich ein. „Natürlich wären sie nicht allein“, antwortet sie zögernd. Ich frage sie: „Was tun Sie denn, um sich selbst eine Freude zu machen?“ Ich höre, dass sie gelegentlich mit einer befreundeten Kollegin in ein Konzert geht. „Und Ihre Grenzen, also die Grenzen dessen, was Sie bewirken können, was ist damit? Achten Sie auf die?“

Verausgabung für andere

Sie denkt nach. Nach einer Weile meint sie: „Wahrscheinlich nicht. Das war schon früher so. Wissen Sie, ich habe nämlich einen kleinen Bruder, der behindert ist. Um den habe ich mich immer sehr bemüht. Viel mehr als der Rest der Familie. Ich dachte mir, wie toll es wäre, wenn er ganz normal eingeschult werden könnte, und habe mich mächtig dafür angestrengt, indem ich mit ihm gelernt und gespielt habe. Geklappt hat es leider nicht, er musste letztlich doch in eine Förderschule.“

Sie geht offensichtlich über ihre Grenzen und überfordert sich insgesamt. Und dann vermute ich noch, dass sie, wenn sie einen kleinen behinderten Bruder hat, möglicherweise Schuldgefühle hat, weil sie selbst gesund ist und es – im Gegensatz zu ihm – immer war. Ich sage ihr: „Sie wissen selbst, dass es Grenzen dessen gibt, was bei einer Behinderung erreichbar ist. Das muss ich Ihnen nicht sagen. Aber vielleicht geht es darum, zu lernen, diese Grenzen erst einmal wahrzunehmen und dann in einem zweiten Schritt anzuerkennen? Auch in Ihrer Klasse sind ja die Kinder vermutlich schon lange behindert, und Sie können sie nicht verwandeln in gesunde Kinder.“

Klar, dass sie sich selbst schon Gedanken darüber gemacht hat: „Ich kenne das gut, diese Verausgabung für andere. Es ist wie eine Existenzberechtigung für mich. Immer schon habe ich für andere gesorgt und darin erst eine Daseinsberechtigung für mich gesehen. Früher habe ich zum Beispiel für die ganze Familie das Mittagessen zubereitet, damit die Mutter arbeiten konnte. Ich habe für den kleinen Bruder sehr gesorgt. Und schließlich habe ich meinen Mann geheiratet, der schon damals krank war“, sagt sie nachdenklich.

Auf eigene Grenzen und die anderer achten

„Was denken Sie selbst, könnte es sein, dass Sie Grenzen ignorieren?“ Sie denkt nach. „Ich glaube schon, ja. Nur – wie lerne ich das, auf Grenzen zu achten? Wo sind sie überhaupt?“ Ich fahre fort: „Wann spüren Sie sie denn, Ihre Grenzen?“ Wieder schaut sie nachdenklich aus dem Fenster. „Wann ich sie spüre? Vielleicht wenn ich total kaputt und fertig bin. Da habe ich schon oft gedacht, ich hätte früher aufhören sollen.“

„Aufhören womit?“, frage ich. Nun höre ich, dass sie auch einen Garten hat, in dem sie nachmittags tätig ist. Sie berichtet, dass sie allerhand Gemüse und Blumen darin zieht und ihre Freude hat, wenn alles gut gedeiht. Ich erfahre, dass sie mit der Gartenarbeit entspannt. „Das Werkeln im Garten tut mir einfach gut.“

Ich überlege mir, wie sie auch in dem anstrengenden Unterricht gegen die Selbstüberforderung angehen könnte. Wie sie also auch bei der Berufsarbeit auf ihre eigenen Grenzen und die Grenzen, die die Kinder mit ihrer Behinderung haben, gezielter achten könnte. Im Stillen denke ich mir, dass sie in der Schule die behinderten Kinder gesund machen will, ähnlich wie sie es mit ihrem kleinen Bruder vorhatte. Das wird von den Eltern zwar anerkannt, ist aber nicht möglich. Da geht es also darum, anzuerkennen, dass diese Kinder intellektuell und körperlich ihre Grenzen haben.

Zuerst das Vergnügen, dann die Arbeit?

Insgeheim frage ich mich, ob sie womöglich nach dem Motto lebt: Erst die Pflicht, dann das Vergnügen. Also erst an beziehungsweise über die eigenen Grenzen zu gehen, sich enorm anzustrengen, und erst danach die Entspannung als Belohnung gewissermaßen annehmen zu können. Wie wäre es für sie, zuerst Freude zu genießen über so manches, was gelingt, und nicht die Verpflichtung zu immer mehr Anstrengung zu spüren?

Sie zweifelt. Ich finde das ganz natürlich, denn es ist für sie ja etwas völlig Neues und Ungeübtes. „Alles, was neu ist, macht uns anfangs Angst“, betone ich. Womöglich könnte ihr sogar diese Sitzung zusätzlich Druck machen. Druck in dem Sinne: Ich muss mich verändern. Ich muss, um zu genügen. Doch das wäre kontraproduktiv. „Einen neuen Weg zu beschreiten – und darum geht es ja letztlich – bedeutet lediglich, dass man Mut braucht, etwas anders als bisher anzugehen“, sage ich zu ihr. „Wie könnte das bei Ihnen aussehen? Speziell beim Unterrichten?“

Ein Therapieziel könnte sein, dass sie anerkennt, dass behinderte Kinder nicht so lernfähig sind wie nicht behinderte und dass es nicht in ihrer Verantwortung liegt, wenn sie da an Grenzen stößt. Mit dieser veränderten Haltung könnte sie ihre Ansprüche an sich selbst überdenken. Darüber und wie sie etwas anders machen, also die Grenzen eher beachten kann, auch die, die durch die Behinderung der Kinder vorhanden sind, werden wir in den kommenden Sitzungen sprechen.

Margarethe Schindler ist Psychologische Psycho­therapeutin und arbeitet als systemische Paar- und Familientherapeutin in eigener Praxis in Tübingen

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 9/2018: Die Kraft des Verzeihens
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