Der Arzt, Neurowissenschaftler und Gesundheitsforscher Tobias Esch, Jahrgang 1970, gilt als Pionier einer ganzheitlichen Allgemeinmedizin. Sein Buch Wofür stehen Sie morgens auf? ist sehr persönlich gehalten, er berichtet in ihm – manchmal zu ausführlich – von biografischen Weggabelungen und erzählt eindrückliche Fallgeschichten. Staunend beschreibt er wundersame Veränderungen und Heilungen, bei denen manche seiner Patientinnen und Patienten in ihrem Leid Sinn finden konnten, wieder verbunden waren mit sich selbst, mit ihrer Welt, mit etwas Höherem.
Wie der Titel nahelegt, richtet sich das Buch nicht an die Fachwelt. Der Autor untersucht die Sinnfrage aus professioneller und zugleich persönlicher Sicht. Ein Literaturverzeichnis sucht man vergebens, obwohl das Buch mit neuesten Forschungserkenntnissen gespickt ist. Diese werden beiläufig und unterhaltsam dargestellt und mit vielen persönlichen Geschichten ergänzt, wie man es von englischsprachigen Sachbüchern kennt.
Leser und Leserinnen erhalten nutzwertige Anregungen, um dem eigenen Sinn auf die Spur zu kommen und eigene Grundmotivationen zu hinterfragen, etwa durch Atem- und Achtsamkeitsübungen, Methoden zur Körperwahrnehmung oder durch die sieben Schritte einer dialogischen Meditation.
Die fehlende Verbundenheit
Das Buch kritisiert die eingeengte Sicht des bio-psycho-sozialen Gesundheitsmodells. Das biologische Modell der Körpermaschine will Esch um die Dimension der Verbundenheit ergänzen. Viktor Frankl, auf dessen Existenzanalyse im Buch oft verwiesen wird, bezeichnete fehlende Verbundenheit als ein Leiden an der Sinnlosigkeit. Eschs Plädoyer für eine vierte Dimension neben den bekannten bio-psycho-sozialen Faktoren wird mit einer Kampagne der obersten amerikanischen Gesundheitsbehörde untermauert, die 2023 Projekte zur Stärkung spiritueller Zugehörigkeit startete. Verbundenheit sei eine echte medizinische Allroundkraft, die mit wissenschaftlicher Evidenz Herzkrankheiten, Bluthochdruck, Angst, Depression, Stress, Demenz und vieles andere wirksam lindern könne.
Für Esch limitiert das bio-psycho-soziale Modell der Gesundheit das medizinische Potenzial. Das Sterben als unausweichliches Ende des Lebens erinnere den Menschen daran, auch Werte jenseits des Materiellen zu finden und Verbundenheit zu diesen Werten zu pflegen. Mit einem berührenden Fallbeispiel eines jungen Familienvaters, der in seinen Vierzigern bei einer unheilbaren Krebserkrankung friedlich einschläft, weil er ein inneres Ja zu seinem Weg gefunden habe, belegt er die Wirkmächtigkeit der spirituellen Dimension.
Ketzerei oder Selbstbetrug?
Der Psychologe, Psychotherapeut, Supervisor und Coach Werner Gross, Jahrgang 1949, blickt auf reiche Berufserfahrungen in der Praxis, Organisationsentwicklung und der berufspolitischer Gremienarbeit zurück. Auch sein Buch Meinetwegen – nenn es Gott ist persönlich und gibt Stationen seiner Sinnsuche wieder: zuerst Messdiener, dann Kirchenaustritt, Aschrambesuche in Indien, Yoga und Zenmeditationskurse, islamische Drehtänze, diverse Esoterikpraktiken mit seinem Fazit: „Viel erlebt – aber auch was kapiert?“ Der Sinnsucher Gross will mit seinem Buch Religionen entmystifizieren, ohne den Glauben im Sinne von Urvertrauen infrage zu stellen. Der Autor sympathisiert mit „Ketzerinnen und Ketzern“, wie er sie nennt, die sich lieber selbst Gedanken machen, als unhinterfragt Sinnsysteme zu übernehmen. Verteilt über das ganze Buch finden sich „Ketzereinwürfe“, die allerdings oft polemisch bis zynisch geraten sind: „Glaubensgewissheit ist die hohe Kunst des gnädig gewährten Selbstbetrugs.“
Neben dem Abwägen von Sinn und Unsinn der Religiosität kommen Zweifel am Glauben, die weltweiten Glaubenskriege, Zwangsbekehrungen, religiöse Autorität und Missbrauch, die Sehnsucht nach Heiligem, Erleuchtungserfahrungen, der schillernde Esoterikmarkt, die Welt der Sekten und vieles mehr zur Sprache. Die Entstehung der Religionen wird kulturhistorisch nachgezeichnet, philosophische und theologische Gottesbeweise verglichen, die Entstehung und Funktion von heiligen religiösen Büchern, Engeln und Propheten kurz beleuchtet und die Organisationsformen von Kirchen und Sekten unterschieden.
Leider sind die Ausführungen oft holzschnittartig und einseitig, weil die religionswissenschaftliche und theologische Expertise fehlen. Ohne Fachwissen zur historisch-kritischen Bibelforschung, zur Religionssoziologie der Pfingst- und Freikirchen oder dem cultural turn in der Religionswissenschaft sind viele Kapitel in ihrer Kürze arg oberflächlich geraten. Ärgerlich für ein Sachbuch sind die veralteten Literaturangaben nach jedem Kapitel, die nicht einmal alphabetisch sortiert sind.
Die Stärke des Buches von Gross ist indes die Einbeziehung der Schattenseiten von Religion und Glauben, aber sein belehrender Ton stört. Das Plädoyer von Esch, die spirituelle Dimension in die Gesundheitsversorgung einzubeziehen, überzeugt: Dass dabei das Missbrauchspotenzial religiöser Macht übergangen wird, ist jedoch realitätsfern. Dennoch inspirieren beide Bücher sehr, eigene Antworten für die letzten Fragen zu suchen.
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Tobias Esch: Wofür stehen Sie morgens auf? Warum Sinn und Bedeutung entscheidend für unsere Gesundheit sind. Gräfe und Unzer 2023, 240 S., € 24,–
Werner Gross: Meinetwegen – nenn es Gott. Sinn und Unsinn von Religion und Religiosität. Springer 2024, 227 S., € 24,99