Herr Lehner, gibt es einen Zusammenhang zwischen Geschlecht und Trauer?
Geschlecht ist bekanntermaßen eine soziale Kategorie, die das Verhalten von Menschen prägt. Ein traditionelles Männlichkeitsbild, das von Dominanz, Konkurrenz und Hierarchie geprägt ist, kann dann unter Männern dazu führen, dass Gefühle im Allgemeinen und Trauer im Speziellen zwar erlebt, aber eher verhalten geäußert werden. Beobachtbar ist, dass Männer Gefühle und Trauer tendenziell kontrolliert ausdrücken und eher schneller wieder Haltung erlangen wollen.
Was versteht man unter dem „männlichen Externalisierungsprinzip“ und wie äußert es sich?
Der Sozialpädagoge Lothar Böhnisch beschreibt mit „Externalisierung“ die Neigung in der Gruppe der Männer, sich außengerichtet zu verhalten, das Innen zu verschließen und die dort entstehenden Gefühle abzuspalten. Der Blick richtet sich nach außen, darauf, was erwartet wird. Das eigene Innere mit den Gefühlen kann dann zur Gefahr werden. Wenn man sich ihnen hingibt, ist man verloren, weil man die Kontrolle verliert und nicht mehr funktioniert. In der Folge tun sich manche Männer schwer, mit den eigenen und folglich auch mit den Problemen anderer umzugehen. Sie sind eher darauf aus, wieder zu funktionieren und für Probleme eine schnelle Lösung zu suchen.
Sie schreiben in Ihrem Buch, dass in Großbritannien Ende des 19. Jahrhunderts die „ideale Trauerzeit“ für einen Mann, der seine Frau verloren hatte, mit drei Monaten angegeben wurde. Von einer Witwe hingegen wurde erwartet, dass sie zweieinhalb Jahre allein und zurückgezogen leben sollte. Wirken sich diese historischen Vorgaben heute noch aus?
Ich kenne aus meiner Kindheit in Österreich noch regionale Gebräuche, in denen von Frauen nach einem familiären Todesfall schwarze Kleidung bis zu einem Jahr oder länger erwartet wurde, während Männer Schwarz nur rund um das Begräbnis trugen. Solche zeitlichen Vorgaben sind mittlerweile verschwunden, wie auch ganz allgemein das Trauern zunehmend individualisiert wurde.
Was jedoch nach wie vor gilt, ist, dass Trauer in erster Linie mit Frauen verbunden und ihnen zugeschrieben wird. Damit einher geht, dass vor allem Frauen die Verbundenheit mit der verstorbenen Person auch über den Tod hinaus betonen. Das auf Sigmund Freud basierende Konzept der „Trauerarbeit“, dessen Ziel ja die Ablösung von der verstorbenen Person ist, ist wiederum Ausdruck einer männlichen Erfahrungswelt. In ihr geht es um Funktionalität. Lange Trauerprozesse wären hier hinderlich.
Sie sprechen in Ihrem Buch vom intuitiven und vom instrumentellen Trauermuster. Wie unterscheiden sich die beiden?
Intuitiv Trauernde erfahren die Trauer über den Verlust als tiefe schmerzvolle Gefühle, die sie auch ausdrücken wollen. Instrumentell Trauernde fühlen sich wohler, wenn sie ihren Verlust intellektuell bearbeiten können, sie zeigen wenig Gefühle. Instrumentelle und intuitive Trauer lassen sich eher als zwei Pole eines Kontinuums verstehen – der Großteil der Menschen befindet sich irgendwo dazwischen, Männer tendenziell eher am instrumentellen Pol, Frauen eher am intuitiven.
Welchen Kernherausforderungen müssen sich Trauernde stellen?
In der Trauer geht es um ein doppeltes Geschehen: Sie wendet den Blick zurück, sie hilft uns, dass wir uns über den Verlust klarwerden, ihn bedenken, Bilanz ziehen, ihn akzeptieren und in unser Leben einordnen. Aber ebenso wendet sich der Blick in die Zukunft, indem die trauernde Person lernen muss, ohne die verstorbene Person das Leben neu zu gestalten. Trauer ist einerseits ein inneres Geschehen der Selbstreflexion, das aber andererseits immer auch der sozialen Verbundenheit mit anderen bedarf.
Erich Lehner studierte katholische Theologie, Psychologie und Pädagogik. Er ist Psychoanalytiker in eigener Praxis und in der Männer- und Geschlechterforschung sowie in der palliative care aktiv.
Erich Lehners Buch Ohne dich. Wenn Männer trauern ist bei Tyrolia erschienen (128 S., € 18,–)