Selbstwirksamkeit – eine Illusion?

Belohnungsreize ködern uns – alltäglich. Heike Melzer zeigt in ihrem Buch, wie wir dem entgegenwirken, um nicht mehr so leicht verführt zu werden.

Ein Bücherstapel mit den Büchern, die in Ausgabe 9/2024 vorgestellt werden
Das ist der Bücherstapel der Rezesionen aus der Septemberausgabe. © Psychologie Heute

Wir alle werden permanent von diversen Reizen bombardiert: Likes in den sozialen Medien, Rabattaktionen beim Onlineshopping, Goldtaler bei Computerspielen. Und es gibt viele Reize, die wir gar nicht bewusst wahrnehmen, etwa Geschmacksverstärker in unserem Essen, auf die unser Belohnungssystem sofort anspringt. Gefährlich wird es, wenn wir immer mehr Dopaminkicks brauchen und schließlich eine Sucht entwickeln.

Menschen, die kauf- oder pornosüchtig sind oder von Computerspielen nicht loskommen, sieht Heike Melzer in ihrer Praxis täglich. Auch viele Patientinnen und Patienten mit ADHS sind darunter, die aufgrund einer Dysbalance in ihrem Dopaminhaushalt ein erhöhtes Risiko für Abhängigkeiten haben. Für die meisten ihrer Klientinnen und Klienten mit „enthemmten Verhaltensweisen“ hat es mit harmlosen Ködern begonnen. Das kann der süße Snack zwischendurch oder eine Schnäppchensuche im Internet sein. Der Prozess, in eine Abhängigkeit zu geraten, geht oft schleichend, über Jahre.

Sehr genau schaut die Neurologin und ärztliche Psychotherapeutin in die Trickkisten, mit denen die Betreiber etwa von Onlinespielen arbeiten: Während des Spiels bekommen die Nutzer und Nutzerinnen positives Feedback im Übermaß, so dass ihr Dopamin­pegel ständig hochgehalten wird.

Unüberschaubare Flut an Stimuli

Verantwortlich dafür, dass wir so schnell verführbar sind, ist unser Belohnungssystem, das immer noch reagiert wie zur Zeit unserer Vorfahren. Damals waren die Menschen auf Reize angewiesen, um sich Essen oder Sex zu organisieren, die Stimuli waren überschaubar.

Heute leiden wir keinen Mangel, reagieren aber immer noch sehr stark auf Reize, die uns mittlerweile im Übermaß fluten. Diese Fülle schwächt wiederum den präfrontalen Kortex, im Gehirn zuständig für Vernunft und Impulskontrolle.

Heike Melzer gelingt der Spagat, diese komplexen Zusammenhänge wissenschaftlich fundiert und gleichzeitig unterhaltsam zu vermitteln. Auch die dringende Frage, wie wir uns vor dem permanenten Reizangriff schützen können, beantwortet sie nachvollziehbar und facettenreich. Eine Möglichkeit ist etwa, den präfrontalen Kortex wie einen Muskel zu trainieren und Belohnungsaufschub zu üben. Für ihre Klientinnen und andere Betroffene ist es, so die Therapeutin, fundamental, die hinter der Verhaltenssucht liegenden psychischen Probleme zu erkennen, denn die Sucht ist letztlich immer eine Kompensation.

Melzers Buch ist keine trockene Lektüre, die vielen Beispiele, Bilder und Metaphern machen die beschriebenen Fakten anschaulich. Ein engagiertes Buch, das aufklären und sensibilisieren will, damit wir der immer aggressiveren Reizflut möglichst wenig auf den Leim gehen.

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 9/2024: Meine Grenzen und ich
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