„Wir mögen die Qual der Wahl nicht.“

Entscheidungen gestalten unser Leben, führen aber auch zu inneren Konflikten. Wer das nicht aushält, gibt die Kontrolle ab; das stört Christiane Groß.

Die Illustration zeigt die Psychologin und Coachin, Christiane Groß, die meint, dass wir die Qual der Wahl nicht mögen
Christiane Groß ist Psychologin und Coachin in Osnabrück. © Jan Rieckhoff für Psychologie Heute

Kürzlich berichtete mir eine Klientin von großen inneren Spannungen. Sie habe ein Jobangebot erhalten und frage sich, ob sie kündigen und es annehmen solle. Anderes Beispiel: Der Sohn eines Freundes weiß nicht, welche Ausbildung er machen möchte. Er fühlt sich innerlich zerrissen. Noch eines: Soll ich heute Abend der Einladung folgen oder lieber für mich sein?

Innere Spannungen treten auf, wenn es um eine Entscheidung geht. Es ist die Qual der Wahl, die da zum Ausdruck kommt. Eine Entscheidung zu treffen bedeutet, zu einer Sache, einem Menschen, einem Vorhaben ja zu sagen. Damit geht zwingend einher, zu anderen Sachen, Menschen, Vorhaben nein zu sagen. Denn ich kann weder parallel noch langfristig vorbehaltlich leben. Und mit dem Verzicht auf das, was unter das Nein fällt, muss ich erst mal fertigwerden.

Klar, wir wünschen uns ein Leben in innerer und äußerer Harmonie. Ein Leben im Flow, in dem wir jederzeit wissen, was das Richtige ist, und das dann auch tun. Stattdessen geraten wir täglich in Situationen, in denen wir uns entscheiden müssen. Und je nachdem, was auf dem Spiel steht, fällt das manch­mal etwas leichter – und manchmal et­was schwerer.

Zwischen Partizipation und Individuation

Einen inneren Konflikt zu erleben heißt: Ich nehme mich und mein Leben ernst. Ich setze mich mit dem auseinander, was mir wichtig ist. Und da kann es vorkommen, dass mehrere Werte gleich wichtig sind. Nehmen wir meine Klientin: Sie schätzt die vertraute Sicherheit des jetzigen Jobs – und das Neue, das das Job­angebot verspricht, verlockt sie. Oder die Frage, wie ich den Abend verbringen will: Ich möchte mit meinen Freundinnen, Freunden zusammen sein – und brauche zugleich Zeit für mich und mit mir.

Carl Gustav Jung hat vor rund hundert Jahren den existenziellen Konflikt des Menschseins mit den beiden Polen Partizipation und Individuation beschrieben. Jeder Mensch trägt zwei gegensätzliche Strebungen in sich: Wir wollen dazugehören, verbunden und geborgen sein. Gleichzeitig wollen wir unsere Einmalig- und Einzigartigkeit entfalten. Das geht aber nur, wenn ich mich auch von anderen unterscheide. Jedes Menschenleben findet in diesem Spannungsfeld statt. Damit gehören innere Konflikte einfach dazu – sie zeigen die Fülle meines Lebens, meine (Wahl-)Freiheit und mein Ringen damit, wie ich mein Leben in jedem Moment für mich gestalte.

Wer niemals innere Konflikte hat, lebt nicht das eigene Leben, sondern das, was erwartet wird und alle tun. Nur wenn ich entscheide, gestalte ich mein Leben – wenn ich das anderen überlasse, um die innere Spannung zu umgehen, gestalten es andere.

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 8/2024: Glückliche Stunde gesucht
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