Fünf Paradigmen der Posen

Psychologie nach Zahlen: Was können andere Menschen in unseren Selfies lesen? ► Fünf Kategorien des Eindrucks

Die Illustration zeigt eine Frau, die auf ihrer Hand einen Porträtmaler sitzen hat, der ein Selfie von ihr malt
"Selfie!" Wie wir dabei in die Kamera schauen, gibt anderen viel Raum zur Interpretation. © Till Hafenbrak für Psychologie Heute

Seit jeher sind Menschen fasziniert davon, ein Bild von sich selbst zu machen, mit dem sie sich dann vor anderen präsentieren: Schaut her, das bin ich und so bin ich. In früheren Zeiten posierte man – wenn man es sich leisten konnte – vor einem Porträtmaler, später vor einer Fotografin. Doch erst die Entwicklung der Smartphones machte es möglich, sich ohne Aufwand selbst abzulichten – und seit gut zwei Jahrzehnten gibt es ein Wort für diese Sorte Ad-hoc-Selbstporträts: Selfie.

Selbstredend stürzte sich sogleich auch die psychologische Forschung auf dieses leicht zugängliche Medium der Selbstdarstellung. Bislang beschäftigten sich die Studien vor allem mit der Senderseite, etwa: Wie präsentiert sich diese Person und was will sie der Welt damit kundtun? Die Psychologen Tobias Matthias Schneider und Claus-Christian Carbon von der Universität Bamberg wechselten nun aber in ihrer Studie die Perspektive: Sie wollten wissen, wie Selfies auf die Menschen wirken, die sie anschauen, und was sie mit dem Bild und der Pose jeweils assoziieren. Die beiden Forscher betrachteten die Selbstporträts also sozusagen im Spiegel der Empfängerinnen und Empfänger.

Schneider und Carbon präsentierten 132 Frauen und Männern aus einem Pool von 1001 Selfies je eine Zufallsauswahl von 15 Bildern. Die Betrachtenden sollten nun ihre spontanen Assoziationen in fünf Begriffen festhalten, etwa „verführerisch“, „extrem posierend“, „alberner Hut“, „Verabredung“, „zusammen mit Freundinnen“. Dieser Datensatz wurde dann schrittweise verdichtet, so dass sich am Ende fünf große Muster oder „semantische Profile“ herauskristallisierten. Jedes von ihnen, so Tobias Schneider, „steht für eine ganz eigene Art der Botschaft, die mit den Selfies verbunden ist“.

1 Ästhetik

In diese Kategorie entfielen die meisten Selfies. Sie lösten bei denen, die sie betrachteten, Assoziationen zu Stil und Ästhetik der Fotos aus, etwa zum Outfit der Abgebildeten, ihrem Erscheinungsbild. Der einen Betrachterin sprang das Make-up ins Auge, dem anderen das „schicke Shirt“, die Dritte hielt gleich ihren Gesamteindruck fest: „der typische stylische Look junger moderner Frauen“. Das gefärbte Haar wurde ebenso festgehalten wie die längliche Gesichtsform oder der Entenschnabel, zu dem jemand den Mund verzog.

Ferner wurde registriert, ob der Mensch, der sich da präsentierte, natürlich („ein sehr nettes und natürliches Lachen“) oder künstlich wirkte. Rückschlüsse wurden formuliert, etwa: „Wurde für Freunde aufgenommen“. Auch die ganze Komposition des Bildes wurde beurteilt: War es – bewusst? – verschwommen gehalten oder gekippt oder von oben herab fotografiert? Desgleichen fand das Umfeld Beachtung: der Laminatboden, das Bett, die bemalte Wand, der geschmückte Baum. Jemand fiel sogar das „interessante Wechselspiel von Schatten und Formen“ auf.

2 Imagination

Hier landeten Bilder, die die Fantasie zu einer Art narrativer Deutung anregten: Wo ist dieses Bild wohl entstanden? Was treibt diese Person da? Ist sie im Büro, auf Reisen? Was ist das für ein Städtewahrzeichen da im Hintergrund? Oder: Er hat eine Felljacke an, es muss dort frostig sein. Oder: Warum trägt sie diese Maske, ist sie unterwegs zu einem Ball, Karneval in Venedig? Oder: Aha, Fahrradhelm, ein zweiter Radler im Hintergrund – sind die auf einer Tour? Was die Betrachtenden in diesen Bildern sahen, war dort „nicht notwendigerweise direkt sichtbar, sondern indirekt mit dem Inhalt des Bildes verknüpft“, schreiben die Autoren.

3 Charakterzug

Diese Schublade enthält Selfies, die offenbar zu Spekulationen über die Persönlichkeit der abgebildeten Person einluden. Etwa: Sie schaut verträumt und mit weit offenen Augen in die Kamera – wahrscheinlich eher introvertiert, zurückhaltend, vielleicht unsicher? Oder: Sie hält die Hand an die Schläfe zur Imitation eines militärischen Grußes – nimmt sich wohl nicht so ernst, zu Scherzen aufgelegt. Oder: Er schaut ernst in die Kamera, wirkt sensibel und verletzlich. Oder: Was für eine schrille Erscheinung, dieser Typ wirkt überdreht, selbstdarstellerisch. Zu diesen Fotos notierten die Betrachterinnen und Betrachter vor allem Eigenschaftswörter, wie sie zur Beschreibung der Persönlichkeit verwendet werden, etwa „freundlich“, „arrogant“, „selbstsicher“, „schüchtern“, „verrückt“, „aggressiv“.

4 Gemütszustand

Auch die Selbstporträts in dieser Kategorie wurden oft mit Eigenschaftswörtern assoziiert. Doch waren dies hier nicht Adjektive, die überdauernde Wesenszüge eines Menschen beschreiben (trait), sondern solche, die Gefühle und Stimmungen benennen (state). Typische Wörter waren etwa „entspannt“, „depressiv“, „verängstigt“, „glücklich“, „gelangweilt“. Bei diesen Selfies stand anscheinend der momentane Gemütszustand der dargestellten Person so im Vordergrund, dass dieser Aspekt die Aufmerksamkeit der Betrachterinnen und Betrachter auf sich zog.

Zum Beispiel sieht man dort einen jungen Mann, der glückstrahlend zur Seite blickt, eine junge Frau, der der Schreck ins Gesicht geschrieben steht (oder tut sie nur so?), eine andere, die sich (mürrisch?) auf den Ellbogen stützt, wobei die Hand den Mund bedeckt; einen Mann, der mit zusammengezogenen Brauen von unten herausfordernd in die Kamera schaut. Diese Selfies transportieren eine bestimmte Atmosphäre, der affektive Moment zählt, die Situation, nicht die Umgebung und nicht das Davor und Danach.

5 Theorie des Geistes

Die Assoziationen, die die Betrachtenden zu dieser Sorte Selfies notierten, bezogen sich – wie die der dritten Kategorie – oft auf die Persönlichkeit der Abgebildeten. Doch sie waren auch spekulativ. Manche dieser Fotos zeigen die Person in Interaktion mit der Umgebung. Man sieht etwa einen Mann, der mit einem Hund schmust, oder eine Frau in einem (Klinik-)Bett, die sich in einer schwer zu deutenden Geste ein Auge zuhält. Hier fiel nicht direkt ins Auge, was das für ein Typ Mensch ist, der sich dort präsentiert. Vielmehr bedurften diese Bildmotive der Deutung, die Betrachtenden waren hier als Detektivinnen und Detektive gefordert. Sie spekulierten über die Identität und den kulturellen Hintergrund der abgebildeten Person („eine Französin“, „ein Muslim“).

Und offensichtlich versuchten sie auch, sich in den Kopf des Menschen zu versetzen, der da posierte. Sie suchten nach der theory of mind, sie spekulierten also darüber, was in dieser Person wohl vorgehen mochte. Etwa: „Sie ist besorgt um ihr Erscheinungsbild.“ Womöglich lag es aber auch just in der Absicht der Posierenden, genau diesen Eindruck zu hinterlassen. Denn, so Tobias Schneider, wir verbreiten Selfies ja nicht zuletzt deshalb, „um ganz spezifische Nachrichten über uns selbst an die Außenwelt zu senden“.

Quelle

Tobias Matthias Schneider, Claus-Christian Carbon: On the Semantics of Selfies (SoS). Frontiers in Communication, 8:1233100, 2023

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 6/2024: Im Erzählen finde ich mich selbst
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