Worin unterscheidet sich das weibliche Gehirn vom männlichen?

Wie sich das weibliche Gehirn vom männlichen unterscheidet, erklärt Psychiatrieprofessorin Iris Sommer im Interview.

Die Illustration zeigt Iris Sommer, die Professorin für Psychiatrie am Universitätsklinikum Groningen ist.
Iris Sommer ist Professorin für Psychiatrie am Universitätsklinikum Groningen. © Jan Rieckhoff für Psychologie Heute

Wie konnte Judit Polgár im Jahr 2002 im Alter von fünfzehn Jahren den Schachweltmeister Garri Kasparow besiegen, obwohl weibliche Gehirne im Durchschnitt 150 Gramm weniger Hirngewebe und vier Milliarden weniger Nervenzellen haben?

Es ist in der Tat sehr bemerkenswert, dass das weibliche Gehirn so viel leichter ist und etwa 17 Prozent weniger Nervenzellen hat als das männliche Gehirn, wie die Forscherin Bente ­Pakkenberg in ihren Studien herausfand. Glücklicherweise schlagen sich diese signifikanten Unterschiede nicht in einer geringeren Intelligenz oder einer geringeren analytischen Fähigkeit nieder.

Wie ist das möglich?

Die Reifung des Gehirns beginnt bei Mädchen früher als bei Jungen. Und der Stoffwechsel pro Milliliter Hirngewebe ist bei Frauen im Erwachsenenalter um etwa 15 Prozent höher als bei Männern. Dieses Ergebnis wurde in anderen Studien bestätigt. Frauen haben also einen kleineren Motor, aber dieser Motor arbeitet härter. Dies ist die Grundlage für die Aussage, das weibliche Gehirn sei ein europäisches Auto und das männliche ein amerikanisches – eine Aussage meines Kollegen Dick Swaab, die ich gerne zitiere.

Die britische Neurowissenschaftlerin Gina Rippon behauptet, das Gehirn sei „so genderneutral wie die Leber und das Herz“. Stimmen Sie Ihr zu?

Ganz und gar nicht! Die Emanzipation der Frau ist ein wichtiger und noch immer andauernder, manchmal schmerzhafter Prozess. Manche Menschen, sogar Wissenschaftler, sind jedoch der Meinung, dass Gleichberechtigung nur gegeben ist, wenn die Unterschiede zwischen den Geschlechtern aufgehoben sind. Zu diesem Zweck werden geschlechtsspezifische Unterschiede im Gehirn und im Verhalten der Menschen manchmal als unbequeme Wahrheit unter den Teppich gekehrt.

Diese Unterschiede zu leugnen, ist jedoch nicht nur für Mädchen und Jungen, sondern auch für Frauen und Männer schädlich. Wenn man die Unterschiede nämlich berücksichtigt, kann man Männern und Frauen besser gerecht werden – so wie dies in der Psychiatrie und auch in anderen medizinischen Disziplinen der Fall ist.

Gemeinsam mit anderen Forscherinnen und Forschern haben Sie die Auswirkungen einer Geschlechtsangleichung untersucht. Was passiert etwa mit dem räumlichen Vorstellungsvermögen, wenn man sein Geschlecht angleicht?

Vor den geschlechtsangleichenden Maßnahmen wurde das räumliche Vorstellungsvermögen untersucht, indem die Teilnehmerinnen und Teilnehmer etwa beurteilen sollten, ob dreidimensionale Figuren identisch waren. Bei diesen Aufgaben schneiden Männer im Durchschnitt besser ab als Frauen. Und tatsächlich waren vor der Hormonbehandlung Mann-zu-Frau-Transgender bei beiden Aufgaben etwas besser als Frau-zu-Mann-Transgender.

Nach einer dreimonatigen Behandlung mit Hormonen des gewünschten Geschlechts war dieser Effekt verschwunden, und nach einem Jahr Hormonbehandlung hatte sich die Situation umgekehrt: Die Frau-zu-Mann-Transgender waren nun beim Figurendrehen etwas besser als die Mann-zu-Frau-Transgender. Eine sehr bemerkenswerte Veränderung gab es auch bei den Gehältern: Sie stiegen bei der Angleichung von Frauen zu Männern, sanken aber, wenn Männer zu Frauen angeglichen wurden.

Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Online-Version des Artikels sowie in unserer Print-Ausgabe 01/2023 ist aufgrund eines Übersetzungsfehlers die Rede von „Umwandlung von Frauen in Männer“. Dabei sprach die Interviewpartnerin von einer „Angleichung von Frauen zu Männern“. Wir bitten, diesen Fehler zu entschuldigen. Zur Erklärung: Viele Betroffene lehnen den Begriff „Geschlechtsumwandlung“ ab und empfinden ihn als verletzend. Stattdessen sind Bezeichnungen wie „Geschlechtsangleichung“, „Geschlechtsanpassung“ oder „Transition“ treffender.

Iris Sommer ist Professorin für Psychiatrie am Universitätsklinikum Groningen.

Iris Sommers Buch Gehirn, weiblich. Unterschiede wahrnehmen. Stereotype überwinden ist bei C.H. Beck erschienen (235 S., € 24,–).

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 1/2023: Selbstmitgefühl
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