Gibt es einen Unterschied zwischen der Melancholie und der Depression? Und wenn ja: Wie könnte man ihn fassen? Joke Hermsens Buch ist eine Art Plädoyer für die Melancholie. Der niederländischen Philosophin geht es darum, gegen den auf Effektivität und positive thinking getrimmten neoliberalen Zeitgeist das zutiefst menschliche und kreative Potenzial jenes Gefühls hervorzuheben, das man auch als „Traurigkeit“, „Sehnsucht“ oder „Wehmut“ umschreiben könnte.
Dabei argumentiert Hermsen nicht gegen eine medizinisch-psychiatrische Sicht, auch nicht gegen die medikamentöse Behandlung schwerer Depressionen, nur will sie der einseitig auf das Krankheitsbild verengten Auffassung – die im 20. und 21. Jahrhundert vorherrscht – eine weitgefasste kulturgeschichtliche Perspektive an die Seite stellen.
Hier erscheint die Melancholie als ein durchaus zweiwertiger Gemütszustand – schon in der Antike unterschied Platon zwischen einer „krankhaften“ und einer „vortrefflichen“ Form, und auch Hermsen spricht von „pathologischer“ und „gesunder Melancholie“.
Das Glück der Zukunftslosen
Melancholie sei ein Verlustgefühl, eine diffuse Sehnsucht, so meint Hermsen, die aus der Kindheit entstehe, in dem Moment also, in dem wir „selbst“ werden und das unmittelbare Einssein mit der Welt aufgeben. Daher sei Melancholie immer mit dem Empfinden der Vergänglichkeit, des Verlusts und der Sterblichkeit verbunden und – weil uns das alle angeht – ein Teil der Conditio humana.
Ob Melancholie nun aber „gesund“ bleibt oder „krankhaft“ wird, hängt unter anderem davon ab, ob die Heilmittel Liebe, Kunst, Gemeinschaftlichkeit zur Verfügung stehen. In ihrer gelungenen Form beleben sie ein kindliches „Glück des Zukunftslosen“, das Hermsen – abgeleitet von „Kairos“, dem günstigen Augenblick – kairotische Zeit nennt.
Das Aufgehen im Augenblick – wie wir es in der Liebe oder im Kunstgenuss oder dem Kunstschaffen erfahren – lindert den Schmerz der Melancholie, der aber auch gleichzeitig Voraussetzung für tiefempfundene Liebe und Kreativität ist. Sind diese Grundbedürfnisse nicht befriedigt oder in ihrer Empfindung verkümmert, entstehe krankhafte Melancholie, die Depression, von der nicht nur einzelne Personen, sondern auch ganze Gesellschaften erfasst werden könnten.
Die niederländische Originalausgabe von Melancholie in unsicheren Zeiten stammt aus dem Jahr 2017, und die Entwicklungen der letzten Jahre lassen die Diagnose einer „depressiven Gesellschaft“ noch treffender erscheinen. Doch leider bleibt Hermsens Kritik an der Gegenwart – so berechtigt sie sein mag – zu sehr in schwammigen Floskeln wie „unsere Konsumgesellschaft“ stecken. Hier hätte man sich etwas weniger glattgeschliffenen Moralismus gewünscht. Der Grundimpuls des Buches aber, dem guten Potenzial der Melancholie wieder zu seinem Recht zu verhelfen sowie dem Gleichgewicht von Glück und Trauer, ist sehr zu begrüßen.
Joke J. Hermsen: Melancholie in unsicheren Zeiten. Aus dem Niederländischen von Bärbel Jänicke. HarperCollins, Hamburg 2021, 220 S., € 20,–