Sie haben im Supermarkt bezahlt, verstauen das Wechselgeld sorgfältig im Portemonnaie – und lassen Ihre Einkaufstüte liegen. Oder: Sie wollen auf dem Heimweg von der Arbeit noch einen Abstecher zu einem Freund machen, erinnern sich aber erst wieder daran, wenn Sie zu Hause angekommen sind. Oder: Sie sitzen vor dem Fernseher, und plötzlich wird Ihnen bewusst, dass Sie nichts von der Sendung, die gerade läuft, mitgekriegt haben. Solche „Ausfälle“ tun wir ab als „schusselig“, „geistesabwesend“, „weggetreten – in Gedanken ganz woanders“. Offenbar haben wir uns schon daran gewöhnt, an das Leben mit „weit geschlossenen Augen“ (eyes wide shut).
Gravierender wirkt sich das Abwesendsein in kritischen Situationen aus: Ein Stoppschild übersehen, zu spät erkennen, dass da noch eine Stufe kommt… Die meisten Unfälle – vom Treppensturz über die Schiffshavarie bis zur Reaktorkernschmelze – geschehen, weil jemand nicht richtig „da“ war.
Auch in einem dritten Bereich breitet sich eine folgenreiche Schludrigkeit und Geistesabwesenheit aus: Wir werden immer unachtsamer im Umgang mit anderen. Wenn man beliebige Gespräche in unterschiedlichen Kontexten beobachtet, stellt man leicht fest, wie fast ständig aneinander vorbeigeredet wird, kaum jemand hört noch genau zu. Man fällt einander ins Wort, weil es wichtiger scheint, das Eigene loszuwerden. Entsprechend ist das gegenseitige „Verständnis“: Die Argumente des anderen „kenne ich doch schon“, subtilere Botschaften gehen völlig verloren. Ich bin zwei Monologe, sagte der Dialog.
Der gemeinsame Nenner all dieser Fehlleistungen ist: Wir haben ein massives Wahrnehmungsproblem. Wir erkennen die Welt nur noch in groben Silhouetten, wie durch einen Schleier, weil unsere Aufmerksamkeit nicht wirklich präsent ist. „Gemessen daran, wie wir sein sollten, sind wir nur halb wach“, meinte schon einer der Gründerväter der modernen Psychologie, William James zu Beginn des letzten Jahrhunderts. Diese Beobachtung gilt erst recht heute: Wir sind nur „halb wach“ und geistesabwesend, obwohl – und weil – wir so viel zu überlegen und zu bedenken haben.
Wie nie zuvor in der Geschichte wird das menschliche Gehirn mit Reizen bombardiert, wie nie zuvor müssen wir tagtäglich eine Vielzahl von Entscheidungen treffen, müssen ständig zwischen Wichtigem und weniger Wichtigem sortieren. Wir versuchen immer häufiger, mehrere Dinge gleichzeitig zu erledigen („Multitasking“). Und wie nie zuvor vertrauen wir dabei auf mentale Hilfskonstruktionen – auf so genannte Heuristiken –, die uns einen Großteil der gedanklichen Arbeit abnehmen sollen.
Achtsam bleiben, auch wenn es schnell geht
Wir denken und reagieren auf die Anforderungen des Alltags „schnell“ mithilfe von Faustregeln, Formeln und Kategorien. Wir verlassen uns auf Erfahrungen, die wir irgendwann einmal gemacht haben, und wir haben einen Großteil der alltäglichen Verrichtungen so automatisiert, dass sie „wie von selbst“ ablaufen und unserer Geistesgegenwart gar nicht bedürfen: Arbeiten, Autofahren, Essen, Routinetätigkeit und vieles mehr wird von einer Art „Autopilot“ erledigt, den wir einschalten. Der Sozialpsychologe Robert Cialdini, spezialisiert auf die Mechanismen der Beeinflussung, sieht unser Problem so: „In Eile, gestresst, verunsichert, desinteressiert, abgelenkt oder erschöpft neigen wir dazu, nur einen Teil der zur Verfügung stehenden Information zu beachten … und greifen oft auf den relativ primitiven, aber unvermeidbaren Ansatz zurück, unsere Entscheidung von nur einem einzigen Indiz abhängig zu machen.“ Achtsamkeitstheoretiker würden zustimmen, dem Einschub „aber unvermeidbaren Ansatz“ jedoch entschieden widersprechen: Es ist prinzipiell immer möglich, achtsam zu bleiben und zu erkennen, was uns beeinflusst und was mit uns passiert.
Das menschliche Gehirn wird im Wesentlichen von zwei übergeordneten Orientierungen oder Programmierungen beherrscht:
Zum einen agiert es wie ein Sparkommissar, der auf den höchst ökonomischen Einsatz der zur Verfügung stehenden Lebensenergie durch den Gesamtorganismus bedacht ist. Daran ist das Gehirn schon deshalb interessiert, weil es überproportional viel dieser Energie für sich selbst braucht – als Organ, das gerade mal 800 bis 1000 Gramm schwer ist, beansprucht es 20 bis 30 Prozent der Körperenergie. Alles soll deshalb so einfach und unaufwändig wie möglich erledigt werden. Das Gehirn hat aus diesem Grund Rezepte, Stereotype und Vorurteile gespeichert, die ihm Entlastung von der mühsamen Analysearbeit bringen sollen.
Zum anderen ist das Gehirn ein Organ, das zu ständigen Leistungen gefordert werden will und hier hohe Ansprüche stellt. Es ist darauf angelegt, seine unersättliche Neugier zu befriedigen. Wie ein Hochleistungsradar sucht es die Umwelt nach neuen Reizen ab, es hungert nach Stimulation und Abwechslung. Erst in diesem Modus entdeckt es neue Aspekte der Welt und kann sie gewinnbringend verarbeiten.
Zwischen kognitiver Frugalität und energieintensiver Abenteuerlust pendeln wir hin und her, je nach Temperament und Lebensumständen mal eher diesem, dann wieder jenem Bedürfnis nachgebend. Der englische Maler und Philosoph William Blake war als Künstler ein Befürworter des ständigen Suchens und Entdeckens – Generalisierungen hielt er für die Denkweise von Idioten. Sein Landsmann Edmund Burke, Vordenker des politischen Konservatismus, sah dagegen in den Faustregeln und Stereotypen die verdichtete „Weisheit der Jahrhunderte“.
Der Doppelcharakter des Gehirns spiegelt sich auch in zwei Forschungsprogrammen der Psychologie wider: Der Erforscher der unbewussten Kognitionen, der amerikanische Psychologe John Bargh, folgt der Burkeschen Auffassung und hebt die „Weisheit des Unbewussten“ hervor. Er betont den Wert des Automatischen, Intuitiven, „Sparsamen“ und Impliziten unseres mentalen Funktionierens.
Präsent, aber nicht schematisch
Die Harvard-Sozialpsychologin Ellen Langer hält es im Gegensatz dazu für geboten, möglichst wenig auf die kognitiven Automatismen zu vertrauen. Zuträglicher wäre es, sich immer wieder in den Zustand der Präsenz zu versetzen: in eine möglichst wache, achtsame Seinsweise, die auf schematisches Denken weitgehend verzichtet und in jeder Situation „offen für alles“ bleibt. Langer ist überzeugt davon, dass ein unachtsam gelebtes Leben ein ungelebtes Leben ist. Ihre Auffassung deckt sich mit der buddhistischen Lehre der Achtsamkeit (Sanskrit: smriti oder satipathánna), was die Grundhaltung des „reinen, unabgelenkten Beobachtens“ betrifft: keine Wertungen, keine vorschnellen gefühlsbasierten Urteile. Die Dinge sollen quasi für sich selbst sprechen, und der Achtsame lernt zuzuhören.
Langers Achtsamkeit unterscheidet sich von der buddhistischen insofern, als sie die Meditation nicht als Bedingung für Achtsamkeit ansieht. Sie plädiert für eine „Achtsamkeit ohne Meditation“ – es genüge, sich die Umwelt und die Mitmenschen buchstäblich zu vergegenwärtigen.
Unabhängig von den verschiedenen Definitionen ist Achtsamkeit ein Geisteszustand, in dem wir offen und sensibel sind für Neues, selbst in vertrauten Situationen. Achtsam sein bedeutet, die Wahrnehmung zu schärfen und überall Nuancen und Veränderungen zu erkennen. Achtsamkeit ist die Kunst, die feinen Unterschiede wahrzunehmen. Wer achtsam ist, ist ganz bei der Sache und verschafft sich dadurch immer wieder neu ein unvoreingenommenes Bild der Realität. Er kann flexibler und langfristig erfolgreicher reagieren. Achtsamkeit ist aber mehr als nur Konzentration – also die Fokussierung auf einen Gedanken oder ein Objekt. Im Zustand der Achtsamkeit bleiben wir offen für alle Aspekte einer Situation, ein Zustand, der der Freudschen „freischwebenden Aufmerksamkeit“ des Therapeuten während der Psychoanalyse sehr nahe kommt.
Achtsamkeit basiert auf vier Voraussetzungen:
Über-Bewusstheit: Wir verlieren uns nicht in einer Tätigkeit, sondern sind uns bewusst, dass wir etwas Bestimmtes tun (z. B. beobachten).
Nicht abgelenkt sein: Keine „Nebengeräusche“ wie Grübeleien, Zukunftssorgen oder Gefühlsaufwallungen beeinträchtigen unsere Wahrnehmung.
Neutralität: Wir enthalten uns jeglichen Urteilens und Wertens dessen, was wir wahrnehmen und nehmen alles erst einmal „unbenotet“ in uns auf, selbst wenn uns vieles bekannt vorkommt und wir versucht sind, auf Erfahrungen und Vorurteile zurückzugreifen. Achtsamkeit ist „präreflexiv“ – sie registriert lediglich, was geschieht, ohne sich schon in bestimmte Gedanken oder Gefühle einzuklinken.
Perspektivenwechsel: Im Zustand der Achtsamkeit und der Neutralität bleibt uns bewusst, dass man die Dinge aus sehr unterschiedlichen Perspektiven betrachten kann: Andere Menschen sehen die Dinge anders als wir. Sie haben wahrscheinlich gute Gründe für ihre Betrachtungsweise, und unsere eigene Sichtweise kann falsch, beschränkt oder einengend sein.
Achtsam werden wir in der Regel, wenn wir unsicher sind und alles davon abhängt, dass wir eine unübersichtliche Situation richtig „lesen“, um angemessen zu reagieren: Bei einem Bewerbungsgespräch in der neuen Firma sind wir hellwach und saugen alle Informationen auf. Aber achtsam zu sein lohnt sich nicht nur, wenn wir uns in unbekanntem Gelände bewegen. Auch und gerade in vermeintlich vertrauten Gefilden entgeht uns Entscheidendes, sobald wir uns auf die Pseudoeffizienz des Denkens verlassen: „Immer wenn wir glauben, etwas schon zu wissen, sind wir nicht mehr präsent. Und wenn es wichtig wäre, präsent gewesen zu sein, leiden wir unter den Folgen“, charakterisiert Ellen Langer den Trugschluss der Unachtsamen.
Welche Probleme wir bei der Wahrnehmung haben
Unachtsamkeit operiert mit vorgefertigten Versatzstücken des Denkens. Sie ist automatisch und unflexibel, ein Geisteszustand, in dem wir uns in falscher Sicherheit wiegen und nicht mehr genau hinschauen. Wir haben für die Gegenwart den „Autopiloten“ eingeschaltet. Entweder eilen uns die Gedanken voraus und wir beschäftigen uns mit zukünftigen Dingen, oder wir flüchten uns angesichts einer langweiligen oder unangenehmen Gegenwart ins „Kontrafaktische“: in Tagträume oder Grübeleien darüber, wie wir Ereignisse in der Vergangenheit besser hätten meistern können. In jedem dieser Modi stellen wir uns nicht dem, was uns der Augenblick abverlangt, mit unseren vollen geistigen Kapazitäten.
Unachtsamkeit bedeutet aber auch, sich auf unsere „zweite Natur“ zu verlassen – auf eingeschliffene Konditionierungen, Gewohnheiten und Lösungswege. So besteht Unachtsamkeit etwa darin, sich auf eine einzige Informationsquelle zu verlassen – etwa eine Autorität oder eine sprachliche Formel, die alles zu erklären scheint und weiteres Nachdenken überflüssig erscheinen lässt. Ein bekanntes Experiment Ellen Langers illustriert diese Geistesabwesenheit im Alltag: In einem Copyshop stehen mehrere Personen an einem Kopierer an und warten, bis sie an der Reihe sind. Eine junge Frau wendet sich an die Person, die als nächstes dran wäre, und fragt: „Können Sie mich bitte vorlassen – weil ich ein paar Kopien machen muss?“ Die Vordränglerin war eine Forscherin, und sie war erfolgreich – die meisten ließen sie vor. Das Wörtchen „weil“ war entscheidend, sie lieferte – wenn auch nur zum Schein – eine Begründung. Erst hinterher wurde den Übertölpelten bewusst, dass das überhaupt keine Begründung war, sondern eine Frechheit…
Wer unachtsam lebt, verliert aus dem Blick, dass er die Dinge auch ganz anders, vielschichtiger und „informativer“ sehen könnte. Selbst Autoritäten irren, was heute richtig war, kann morgen schon falsch sein, Sprechgewohnheiten täuschen Logik oder Übereinstimmung vor. Unachtsamkeit hält uns gefangen in einem Spektrum des Denkens und Handelns, das in der Vergangenheit definiert worden ist. Die Möglichkeit von Veränderungen wird ausgeblendet.
Das übliche Argument für „schnelles“ und automatisches Denken lautet: Wir können es uns gar nicht leisten, immer genau hinzuschauen und alle Aspekte und Feinheiten einer Situation zu berücksichtigen. Das würde uns lähmen. In vielen Entscheidungssituationen erginge es uns wie Buridans Esel, der sich nicht zwischen zwei Heuhaufen entscheiden kann und schließlich verhungert. Tatsächlich behindert uns in manchen Situationen eine „Paralyse durch Analyse“, die Lähmung des Handlungsimpulses durch zu viel Nachdenken. Die Notwendigkeit zu automatisierten Reaktionen mag in einer begrenzten Zahl von Entscheidungen und Situationen gegeben sein, wenn es tatsächlich auf Schnelligkeit ankommt oder wenn sich ein Lösungsweg öfter als der richtige bewährt hat. Wer seinem Gemüsehändler vertraut, muss nicht jedes Mal ausgiebig die Früchte beriechen und betasten. Wer in einer dunklen Tiefgarage einen verdächtigen Schatten sieht, sollte seinem Instinkt gehorchen und den Rückzug antreten. Wer auf vereister Fahrbahn ins Rutschen kommt, erwägt nicht lange, welcher Bremsweg der beste wäre, er ruft das ab, was er einmal als „richtig“ gelernt hat: Stotterbremse. Blöd nur, wenn das Auto längst über ein modernes ABS-System verfügt und ein kräftiges Durchtreten des Bremspedals das Richtige wäre…
Um die Fülle des Lebens um uns herum zu ordnen, muss das Gehirn notwendigerweise Kategorien bilden. Damit die Welt nicht zu einem chaotischen und unbegreiflichen Bild verschwimmt, fassen wir ähnliche Erfahrungen, ähnliche Gegenstände und ähnliche Menschen zu Gruppen und Untergruppen zusammen: „Hunde, die bellen, beißen nicht“, „Die Autos der Marke XY haben eine günstige Pannenstatistik“, „Alle Chinesen sehen gleich aus“. Diese Kategorisierung verschafft uns einerseits eine gewisse Sicherheit (und die erwähnte Ökonomie des Denkens), aber wir bezahlen dafür mit dem Verlust an Feineinstellung und mit allmählich zunehmender Starrheit in unserem Weltbild. Wenn sich die Dinge verändern, und das tun sie ständig, oder wenn feine Unterschiede wichtig sind, werden Kategorien zur Denkfalle. Der Journalist und politische Kolumnist Walter Lippmann schrieb schon 1922: „Wir sehen nicht zuerst und definieren dann, wir definieren erst und sehen dann.“
Wie uns Medien beeinflussen
Wie beeinflussen beispielsweise die Massenmedien unsere Weltsicht? Machen sie uns achtsamer oder eher unachtsamer? Fest steht: Das Denken in Kategorien wird durch sie befördert. Medien, das besagt ihre lateinische Sprachwurzel medius = in der Mitte befindlich, vermitteln zwischen unseren Sinnen und der Welt „da draußen“.
Die modernen Medien erzeugen eine ungeheure Zahl von Ideen und Bildern – und vergrößern so unser Repertoire an Kategorien. Wir glauben, über bestimmte Dinge oder über Menschen Bescheid zu wissen, weil wir einen TV-Bericht gesehen oder eine Reportage gelesen haben. Diese abgespeicherten Mediaerfahrungen dienen uns als Kategorien. Sie basieren nicht auf persönlichen Erfahrungen – und doch verlassen wir uns auf sie, wenn wir Werturteile oder Entscheidungen fällen. Dabei füllen wir automatisch das, was uns in einer Situation an direkter, sinnlicher oder konkreter Information fehlt, auf mit dem, was wir aus zweiter Hand erfahren haben.
Der Philosoph Rüdiger Safranski sieht das Dilemma der medialen Beeinflussung unserer mittlerweile globalisierten Weltsicht so: „Früher war die Lebenswelt der Menschen geschlossener. Die Urteilskraft hatte sich in überschaubaren Kreisen zu bewähren. Die modernen Medien produzieren eine Pseudonähe, die zur Folge hat, dass wir das Nahe und das Ferne nicht mehr klar trennen können. Wir können gar nicht mehr so viele vernünftige Urteile produzieren, wie wir eigentlich produzieren müssten … Deshalb muss jeder eine existenzielle Urteilskraft entwickeln, um unterscheiden zu können, wo er wirklich kompetent und erfahrungsgesättigt etwas sagen und sich ein Urteil bilden kann.“
Nur scheinbar vertraut?
Es kommt darauf an, auch in scheinbar vertrauten Situationen das Neue zu erkennen oder in einer gewohnten Situation eine neue Perspektive zu erproben. Mehr denn je müssen wir offen bleiben für die Möglichkeit, dass sich die Hypothesen unseres Handelns verändert haben. Die Gestaltpsychologen der 20er und 30er Jahre des letzten Jahrhunderts haben in vielen eindrucksvollen Experimenten gezeigt, wie sehr die Leistungsfähigkeit in Problemlösesituationen davon abhängt, ob wir funktional fixiert sind – ob wir also ein Werkzeug immer nur zu seinem „eigentlichen“ Zweck einsetzen – oder ob wir diese mentale Einstellung überwinden können und einen Hammer auch zu etwas anderem als zum Draufhauen benutzen. Diese Fähigkeit zum Perspektivwechsel, das Umschaltenkönnen von „Figur“ zu „Hintergrund“ und umgekehrt (wie in den berühmten Kippfiguren), hilft uns, wenn „bewährte“ Problemlösungen nicht mehr taugen.
Achtsamkeit ist dem Spiel verwandt: Die jeweilige Situation ist wichtig, das flexible Reagieren auf neue Konstellationen ist der Reiz an der Sache. Achtlosigkeit dagegen entspricht in vielem der Arbeit: Das Ziel, der Erfolg ist wichtig. Man könnte zum Beispiel Golf auf die achtsam-spielerische und auf die unachtsam-zielfixierte Methode lernen: Bei der ersten Methode gilt die Aufmerksamkeit dem Prozess, das Spiel selbst ist wichtig: Man probiert verschiedene Schläger und Techniken aus, spricht mit anderen Spielern darüber, experimentiert herum und hat Spaß dabei. Anders die zweite Methode, in der es darum geht, das Handicap möglichst schnell zu halbieren – durch verbissenes Training, den besten Trainer und die beste denkbare Ausrüstung. Das Spiel ähnelt der Arbeit, denn es ist erfolgsfixiert und zielorientiert.
Achtsam sein heißt, innere und äußere Vorgänge mit ungeteilter, entspannter Aufmerksamkeit zu beobachten, diese Haltung erhöht die Lebhaftigkeit, Farbigkeit, Realität der Eindrücke – wir nehmen „das ganze Bild“ in uns auf. Die Achtsamkeit reicht weit in die emotionale Intelligenz, weil sie das klare Erkennen fremder und vor allem auch eigener emotionaler Befindlichkeiten begünstigt – wir wissen, was uns gerade bewegt oder beeinflusst, und können so gegensteuern oder moderieren.
Achtsam frühstücken geht nicht
Achtsam zu leben bedeutet nicht, jeden Aspekt unserer Umwelt gleichermaßen intensiv zu beachten. Es geht auch nicht um angestrengtes „Aufpassen“ oder eine Hypervigilanz. Achtsam ist man „ganz entspannt im Hier und Jetzt“. Kann man beispielsweise achtsam frühstücken? Heißt das, etwa die Besonderheit jeder einzelnen Haferflocke, die wir zum Frühstück in den Teller schütten, zu betrachten? Sicher nicht. Aber indem man auch beim Frühstücken „präsent“ bleibt, fällt einem auf, wenn etwas aus der Haferflockenpackung fällt, das dort nicht hineingehört. Und man schmeckt und riecht und genießt das Frühstück, wenn man in Gedanken nicht schon bei der Arbeit ist.
Aber auch geistige Kompetenzen wie die Gedächtnisleistung oder die Kreativität gründen auf Achtsamkeit, eine Tatsache, die in der Pädagogik besonders bedeutsam wird. Unterricht kann Achtsamkeit stimulieren – oder durch Schematismus und Lösungsorientierung unterlaufen. „Gib den Menschen bei einer Aufgabenstellung was zu knobeln – und sie kommen zu kreativeren und besseren Lösungen“, meint Ellen Langer. Manchmal reicht es, wenn der Lehrer einer Aussage das Wort „vermutlich“ voranstellt und so den Zweifel und die Lust am Herausfinden weckt. Alles, was dagegen apodiktisch vorgetragen wird, ist bloßer „Stoff“, an dem nichts mehr zu deuteln ist. Den Knobeleffekt hat Ellen Langer in zahlreichen Experimenten mit Schülern und Studenten auch dadurch ausgelöst, dass sie bestimmte Aufgaben oder Themen im Konjunktiv formulierte: „Könnte es sein, dass manche Tiere den größten Teil des Tages verschlafen?“ Und nicht etwa: „Manche Tiere sind nachtaktiv!“
Richtig üben
Ein anderes Dogma des Lernens lautet: Übung macht den Meister! Stimmt das? Ja, aber nur, wenn man achtsam übt! Stures Pauken vermindert die Leistung. Intellektuelle oder motorische Fertigkeiten werden meist in der Absicht gelernt, sie möglichst schnell „wie im Schlaf“ zu beherrschen. Wir lernen, nein, wir büffeln die Grundlagen oder Bausteine einer Sprache, einer Sportart, eines Spiels, um möglichst schnell zu einem höheren Stadium, zur Könnerschaft aufzusteigen. Aber ist es sinnvoll, das Begreifen einer Aufgabe ausgerechnet in einem Stadium zu automatisieren, in dem wir noch blutige Anfänger sind und das Einmaleins lernen? Besser wäre es, gerade dann offen zu bleiben für jede Nuance, für jede Veränderung der Situation.
Spitzenkönner in allen Bereichen unterscheiden sich von weniger Guten gerade dadurch, dass sie eine achtsame Anfängermentalität beibehalten und immer wieder die „selbstverständlichen“ Grundlagen ihres Metiers infrage stellen. So verbessern sie immer wieder neu ihre Basisfähigkeiten – und damit ihre Gesamtperformance.
Auf andere achten
Achtsamkeit ist auch die Basis guter sozialer Beziehungen: Wer aufmerksamer im Umgang mit anderen ist und sich gleichzeitig vorschneller Urteile enthält, wird eher gemocht und geschätzt. Denn Achtsamkeit wird als Zuwendung und Respekt empfunden.
Wer seine Kinder aufwachsen sieht, ist in der Regel noch achtsam engagiert – er registriert sensibel jeden noch so kleinen Entwicklungsfortschritt. Diese Aufmerksamkeit verflüchtigt sich, wenn das Kind älter wird, sich das Entwicklungstempo verlangsamt und scheinbar weniger passiert. Und erst recht unachtsam werden wir in vielen Beziehungen, in denen wir von einer falschen Stabilität ausgehen: Vor allem in den lang andauernden und daher eigentlich wichtigsten Beziehungen wie Ehen und Freundschaften haben wir verlernt, zu fragen und auf kleine Veränderungen zu achten, weil wir glauben zu wissen, was der oder die andere denkt. Wir wissen ja, wie wir selbst in einer ähnlichen Situation gedacht haben, und so überschätzen wir die Übereinstimmung anderer mit unseren eigenen Meinungen und Bewertungen. In den meisten Fällen ist das ein Trugschluss – der Sozialpsychologe Lee Ross nennt diesen Effekt die Konsensillusion. Besonders bei Paaren schleicht sich diese Illusion leicht ein – man kennt sich doch so gut und glaubt zu wissen, was der andere denkt. Achtsamkeit kuriert diesen Irrtum – wer öfter mal nachfragt, erweitert sein wirkliches Wissen über den Partner und beugt einer Erosion der Beziehung vor.
Die folgende Episode illustriert die Konsensillusion: Der Mann liest Zeitung in einem Zimmer, die Frau macht irgendetwas im Zimmer nebenan. Sie ruft: „Was ist mit diesen Dingern?“ – und erwartet, dass er entweder weiß, wovon sie redet, oder aufsteht und nachsieht… Ellen Langer berichtet eine Episode, in der dieses Kommunikationsmuster unterlaufen wurde: Ehemann kommt nach Hause und ruft im Flur: „Sind sie gekommen?“ Frau weiß zwar nicht, was er mit sie meint, antwortet aber: „Ja!“ Er: „Wo hast du sie hingetan?“ Sie: „Zu den anderen!“
Achtsam leben ist gesund
Wer achtsam lebt, lebt gesünder – und wahrscheinlich auch länger: Achtsamkeit wirkt sich günstig auf eine ganze Reihe von Gesundheitsparametern aus, denn achtsame Menschen registrieren emotionale und physiologische Veränderungen bei sich früher und können darauf reagieren. Sie sind deshalb eher in der Lage, Syndromen wie Burn-out, Depression, hohem Blutdruck und anderen psychosomatischen Gefährdungen vorzubeugen. Der Mechanismus des Biofeedback ist eine gute Illustration der körperbezogenen Achtsamkeit: Er zeigt, wie wir autonome Körperprozesse allein durch bewusste Aufmerksamkeit steuern und beeinflussen können, etwa die Pulsgeschwindigkeit oder den Blutdruck. Wer unachtsam lebt, nimmt Warnsignale und Symptome oft nicht rechtzeitig wahr, mit negativen Folgen für die Gesundheit. Die Psychologen Kirk Brown und Richard Ryan haben in mehreren Studien mit Hunderten von Versuchspersonen herausgefunden, dass Hochachtsame auch deutlich bessere Werte für psychisches und körperliches Wohlbefinden aufweisen (die Achtsamkeit oder Unachtsamkeit wurde mit Fragebögen wie der MAAS, Mindful Attention Awareness Scale, erfasst, die unter anderem solche Items enthält: „Ich verschütte oder zerbreche oft Dinge, weil ich in Gedanken woanders bin und nicht aufpasse“, „Ich vergesse die Namen von Personen, kaum dass sie mir vorgestellt worden sind“, „Ich esse manchmal Süßigkeiten oder Snacks, ohne es zu merken“, „Ich merke oft erst nach einer Weile, dass ich sehr angespannt oder nervös bin“).
Wenn Achtsamkeit uns also klüger, gesünder und glücklicher macht – was können wir tun, um präsenter zu sein? Wie schaffen wir es, unseren schnellen, aber langfristig abträglichen Denkschemata zu entkommen? Achtsamkeitsexpertin Langer fasst es so zusammen: „Achtsamkeit lässt sich am besten erreichen, wenn man von vornherein vermeidet, unachtsam zu sein. Um Unachtsamkeit zu vermeiden, müssen wir uns klar machen, dass die Wahrheit jeder Information von ihrem Kontext abhängt. Wenn wir also etwas wahrnehmen, sollte uns bewusst sein, dass es sich nie um eine absolute Tatsache handelt. Um achtsam zu bleiben, müssen wir einen gesunden Respekt vor Unsicherheit kultivieren. Um einer Sache achtsam zu begegnen, sollten wir aktiv und bewusst nach Unterschieden suchen. Das tun wir nicht, sobald wir glauben, ein Ding, einen Ort oder einen Mensch bereits in- und auswendig zu kennen. Die Erwartung von etwas Neuem dagegen hält uns wachsam und achtsam.“
Vom Konzept zum Psychotherapietool
Wer nun von Natur aus eher unachtsam ist, braucht also nicht zu verzweifeln. Achtsamkeit, welcher Definition sie auch immer folgt, lässt sich lernen und üben. Psychologinnen und Psychologen empfehlen, dies nicht anhand von Videos im Netz zu tun, sondern dafür einen Workshop zu besuchen, der von erfahrenen Trainerinnen und Trainern geleitet wird. Sie können auch Empfehlungen geben, inwieweit Achtsamkeit in einer aktuellen Situation das richtige Mittel ist.
Außerdem wird Achtsamkeit mittlerweile alsTool in vielen Psychotherapien eingesetzt. Wer es lernt, achtsam zu sein, wird ruhiger, kann sich besser konzentrieren und fühlt sich entspannter. Achtsamkeit verhilft auch dazu, dass man eigene Gefühle besser und genauer wahrnimmt und bemerkt, ob ein Gefühl das andere verschleiert. So lässt sich beispielsweise mit Wut Trauer verdecken. Wer lernt, eigene,auch zwiespältige Gefühle erst einmal wertfrei zu akzeptieren, kann daraus Energie ziehen und besser entscheiden.
In manchen Fällen ist aber Vorsicht angesagt: Wem es schlecht geht, wer aufgewühlt und unruhig ist, wer in einer Krise ist, für den reicht Achtsamkeit wahrscheinlich nicht aus und man ist vielleicht gar nicht fähig dazu. Dann braucht man zusätzliche Problemlösestrategien und manchmal professionelle Hilfe. Es wurde außerdem kritisiert, dass Achtsamkeit, die den Fokus stark auf das Innenleben richtet, genau dadurch auch eine zu große Selbstbezogenheit erzeugt. Ein Wundermittel ist sie nicht. Nach einem mehrjährigen Hype hat das Konzept mittlerweile in Psychologie und Psychotherapie seinen Platz gefunden.
Dieser Artikel erschien erstmals am 1. Juli 2004 in Psychologie Heute. Er wurde aktualisiert.
LITERATUR
Johannes Michalak u. a.: Achtsamkeit. Hogrefe, 2022, 2. überarbeitete Auflage
Johannes Michalak u. a.: Achtsamkeit üben. Hilfe bei Stress, Depression, Ängsten und häufigem Grübeln. Hogrefe, 2017.
Rainer Sachse, Thomas A. Langens: Affekte und Emotionen in der Psychotherapie. Hogrefe, 2014.
Ellen Langer: The power of mindful learning. Addison Wesley, Reading 1997
Ellen Langer: Well-being: Mindfulness versus positive evaluation. In: C. R. Snyder und Shane J. Lopez (Hg.): Handbook of positive psychology, Oxford University Press, New York 2002
Ellen Langer: Mindfulness without meditation. Vortrag auf der Tagung der American Psychological Association, Chicago 2002
Robert B. Cialdini: Die Psychologie des Überzeugens. Hans Huber, Bern 1997
Kirk Warren Brown und Richard M. Ryan: The benefits of being present: Mindfulness and its role in psychological well-being. In: Journal of Personality and Social Psychology, Vol. 84, S. 822 bis 848, 2003
Sebastian Haffner: Das Leben der Fußgänger. Hanser, München 2004
„Wir müssen uns dem Bösen stellen.“ Interview mit Rüdiger Safranski. In: der blaue reiter, Journal für Philosophie, Heft 17, 2004