Das Leben im postfaktischen Zeitalter ist zum Haareraufen: Da gibt es Menschen, die glauben, die letzten Präsidentschaftswahlen in den USA seien gefälscht gewesen, und solche, die den Klimawandel für eine Erfindung halten. Manchmal scheint es, als habe die Menschheit in dem Durcheinander aus Fakenews und Verschwörungstheorien den Verstand verloren. Das ist die pessimistische Perspektive. Die optimistische Sichtweise ist jene, die Steven Pinker in seinem Buch entwickelt.
Demnach verfügen wir Menschen durchaus über die Fähigkeiten, die es braucht, um den Verlockungen simpler Erklärungsmuster und mentaler Abkürzungen zu widerstehen. Wir müssen diese Anlagen nur trainieren und von ihnen Gebrauch machen. Dazu gehört die Fähigkeit logischen Schlussfolgerns. Dazu gehört aber auch detailliertes Wissen über typische kognitive Verzerrungen sowie darüber, wie sich diese in den Griff bekommen lassen. Was wir also Pinker zufolge brauchen, ist nicht Weltuntergangsstimmung, sondern Mehr Rationalität – so der Titel seines Buches.
Um seine These zu untermauern, nimmt Pinker die Leserinnen und Leser mit auf eine Reise von den Grundlagen der Inferenzstatistik über Spitzfindigkeiten der Signalentdeckungstheorie bis hin zu den Fallstricken heuristischen Denkens. Vieles davon gehört zum Standardrepertoire der zeitgenössischen Psychologie. Wer dieses bereits kennt, wird sich angesichts von Pinkers anschaulich-elegantem Schreibstil dennoch gut unterhalten fühlen.
Bei allem Lob der Rationalität drängt sich ein Einwand auf: Ist sie wirklich notwendigerweise etwas Gutes? Nicht unbedingt. Versteht man Rationalität – wie Pinker – als ein Werkzeug, mit dessen Hilfe wir unsere Ziele erreichen können, ist sie zunächst einmal ethisch neutral. Wir können sie positiv einsetzen, beispielsweise um Pandemien zu bekämpfen oder dem Klimawandel geeignete Maßnahmen entgegenzusetzen. Sie lässt sich aber auch nutzbar machen, um den weltweiten Drogenhandel zu organisieren oder andere Menschen auszubeuten.
Pinker ist auf diesen Einwand vorbereitet. Moral sei keine irrationale Angelegenheit, argumentiert er, sondern beruhe auf vernünftigen Prinzipien. Rationalität und Moralität ließen sich nicht voneinander trennen. Um das einzusehen, müsse man sich nur Kants kategorischen Imperativ vergegenwärtigen oder die goldene Regel der Bibel. Das ist nicht ganz falsch. Mit dem Verweis auf das „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu“ lassen sich gewiss manche Handlungsmaximen als irrational identifizieren. Aber die eigentlichen Meinungsverschiedenheiten beginnen damit erst. Denn was tun wir, wenn unterschiedliche Werte in Konflikt miteinander geraten – wie etwa in der aktuellen Pandemie, in der es abzuwägen gilt zwischen dem Schutz vor einer Infektion und einer Einschränkung der Freiheitsrechte?
Auch hier helfen rationale Argumente weiter. Dennoch lassen sich dilemmatische Situationen nicht algorithmisch entscheiden, sondern müssen gesellschaftlich ausgehandelt werden. Und dabei mag es durchaus vorkommen, dass unterschiedliche Gesellschaften legitimerweise zu sehr unterschiedlichen Schlussfolgerungen gelangen.
Der Einwand, dass die Rationalität nicht immer etwas Gutes sein muss, lässt sich noch auf eine zweite Weise vortragen. Hat uns nicht gerade der unerschütterliche Glaube an die fortschrittbringende Kraft der Vernunft einige der Probleme eingebrockt, mit denen wir uns heute herumschlagen müssen? Nehmen wir den Klimawandel: Ist er nicht das Resultat unseres beständigen Strebens nach Reichweitenvergrößerung und technischen Neuerungen? Ein Resultat dessen, dass wir zwar klug genug sind, Neues zu erfinden, aber nicht klug genug, all die Folgen vorauszusehen, die dieses Neue in der Welt haben wird?
Also weniger statt mehr Rationalität? Keineswegs. Schon für die Philosophen der Aufklärung, auf die Pinker große Stücke hält, gehörte zum Mut, sich des eigenen Verstandes zu bedienen, die Reflexion der Grenzen des eigenen Verstehens und insbesondere des eigenen Verstehenkönnens. Pinkers Buch ist eine Einladung zum Nachdenken über den Wert der Rationalität. Doch wo der Autor bereits einen Schlusspunkt setzt, ließe sich noch trefflich weiterdenken und weiterstreiten. Mit rationalen Argumenten, versteht sich.
Steven Pinker: Mehr Rationalität. Eine Anleitung zum besseren Gebrauch des Verstandes. Aus dem Englischen von Martina Wiese. S. Fischer, Frankfurt a.M. 2021, 432 S., € 25,–