Frau Welding, Sie erforschen das Phänomen der Gefühlsblindheit, der sogenannten Alexithymie. Was genau bedeutet es, gefühlsblind zu sein?
Gefühlsblinde Menschen können ihre eigenen Gefühle und die anderer Menschen nicht lesen. Sie haben außerdem Schwierigkeiten, auszudrücken, was in ihnen vorgeht. Gefühlsblindheit beschreibt man in einem Spektrum: Ein gefühlskompetenter Mensch ist niedrigalexithym – Menschen, die wenig Kompetenzen in der Erkennung und Empfindung von Gefühlen haben, nennt man hochalexithym. Wir reden hier von hochgradig von der Ratio gesteuerten Menschen, denen äußerlich sichtbare Dinge Orientierung geben, während innere Beweggründe ihnen fremd bleiben.
Wie verbreitet ist die Alexithymie? Und sind Männer und Frauen gleich häufig betroffen?
Alexithymie ist sehr verbreitet: Hierzulande gelten zehn Prozent der Menschen als gefühlsblind. Diese Zahl ist in mehreren Studien bestätigt worden – Sie selbst kennen also vermutlich auch jemand, der gefühlsblind ist. Es scheint eine leichte Tendenz dahingehend zu geben, dass mehr Männer zu Alexithymie neigen als Frauen, allerdings ist dieser Unterschied sehr klein.
Fühlen gefühlsblinde Menschen nichts oder weniger? Oder fühlen sie wie nichtgefühlsblinde Menschen, können diese Gefühle jedoch nicht verstehen oder sprachlich ausdrücken?
Das ist eine sehr spannende Frage, der ich selbst auch jahrelang nachgegangen bin. Große Teile der Alexithymieforschung sind dazu übergegangen, zwischen unterschiedlichen Subtypen zu unterscheiden, um dieser Fragestellung gerecht zu werden: So gibt es etwa den einen Typ, den man als Robotertyp bezeichnen kann, der nicht nur keine Gefühle ausdrückt, sondern auch tatsächlich in seinem Inneren keine oder zumindest weniger Gefühlsregungen verspürt als jemand Nichtgefühlsblindes.
Ein anderer Subtyp hingegen zeichnet sich dadurch aus, dass er gleich viel empfindet wie seine Mitmenschen, diese Gefühle aber nicht ausdrücken kann – hier ist die sogenannte Symbolisierungsebene das Problem: Gefühle müssen ja, wenn man sie ausdrücken will, umgewandelt werden in Symbole – seien es Worte, Umarmungen, Gesichtsausdrücke. Und dieser Prozess ist bei letztgenanntem Subtypus gestört.
Viele gefühlsblinde Menschen haben keinen Leidensdruck – sie erleben keinen Mangel. Warum sollten sie dann Fühlen lernen, wozu der Titel Ihres Buches einlädt?
Das stimmt natürlich einerseits: Gefühlsblinde Menschen kennen es oft nicht anders und vermissen deshalb nichts. Sie würden sich vielleicht als „Kopfmenschen“ bezeichnen, und alle anderen um sie herum machen ein Riesending aus diesen Gefühlen, die auf sie nur wie eine große Dramamaschinerie wirken.
Tatsächlich ist es aber andererseits so, dass gefühlsblinde Menschen erstens häufiger unter psychischen Erkrankungen leiden als nichtgefühlsblinde Menschen. Alexithymie ist also ein Risikofaktor für psychische Krankheiten wie beispielsweise Depressionen, Suchterkrankungen oder Essstörungen.
Zweitens stoßen die gefühlsblinden Menschen sehr wohl häufig an Grenzen: Sie bekommen von ihren Mitmenschen gespiegelt, dass sie verschlossen oder unterkühlt seien. Sicher gibt es Lebensbereiche, in denen ihnen ihre rationale, unaufgeregte Art sogar zugute kommt – in anderen bleiben sie aber außen vor. Nicht wenigen gefühlsblinden Menschen wird das irgendwann bewusst. Sie merken, dass sie anders sind, und wollen das ändern.
Carlotta Welding forscht zum Thema Gefühle und promovierte über Gefühlsblindheit am Exzellenzcluster der FU Berlin. Sie bietet als Emotionscoach Unterstützung bei emotionalen Problemen an (carlottawelding.de)
Carlotta Weldings Buch Fühlen lernen. Warum wir so oft unsere Emotionen nicht verstehen und wie wir das ändern können. ist bei Klett-Cotta erschienen (288 S., € 17,–)