Nein zu sagen, öfter, entschiedener – das mag auf den ersten Blick leicht erscheinen. Tatsächlich aber führt dieser Prozess in die Tiefen unserer individuellen Entwicklung und unserer Vorstellungen von Ich und Wir.
Den eigenen Raum bewusst wahrzunehmen, Grenzen zu setzen und beim anderen zu spüren bedeutet Transformation. Sag Ja zum Nein sagen von Klaus Blaser und Selbstbewusst Nein sagen von Gisela und Herbert Ruffer beschreiben diesen Weg und setzen dabei je eigene Akzente.
Klaus Blasers „Trainingsprogramm zur Stärkung der eigenen Grenze“ orientiert sich an den achtwöchigen Workshops, die der Autor als Arzt und Psychotherapeut zusammen mit Kollegen in Basel anbietet. Jedes Kapitel umfasst eine Woche und hat einen festen Ablauf: Es beginnt stets mit einer Aufwärmübung, meist einer Meditation, gefolgt von der Nachbesprechung der Hausaufgaben und der Wochenübung, die sich auf der dem Buch beliegenden CD findet. Den Abschluss bildet ein Theorieinput, der das Thema der jeweils nächsten Woche vorbereitet.
Blasers Anliegen ist grundsätzlich und herausfordernd. Er will nicht vermitteln, wie wir künftig die Bitte, den Müll wegzubringen, oder einen Auftrag des Chefs kurz vor Büroschluss mit einem schmetternden „Nein“ abwehren. Ihm geht es darum, unseren Innenraum wahr- und ernst zu nehmen, ein klares Gespür für unsere „Neins“ zu entwickeln und dafür, wie wir diese – explizit oder implizit – vermitteln können.
Blaser: Grenzen erspüren durch Meditation und Achtsamkeit
Spürerfahrungen – Meditation, Achtsamkeit und Körperwahrnehmung (felt sense) – spielen daher auch eine zentrale Rolle bei den von Blaser vorgeschlagenen Übungen. Dabei geht es auch darum, die Grenzen anderer zu erspüren, anzunehmen und gegebenenfalls auf dem Boden dieses Respekts einen Kontakt anzubieten.
Respekt ist ein Schlüsselwort in diesem Prozess. Missachten wir doch immer wieder nicht nur unsere eigenen Grenzen, sondern auch die anderer – etwa wenn wir meinen zu wissen, was der andere fühlt oder denkt; wenn wir Empathie behaupten, obwohl wir tatsächlich die eigene Innenwelt über die Innenwelt des Gegenübers stülpen.
Aufschlussreich sind in dem Zusammenhang Blasers Erläuterungen zu jener Dissoziationsskala, die beschreibt, wie wir uns im Alltag von unserer Innenwelt entfernen – in der Regel völlig unbewusst. So sind Menschen, die schon als Kind Verantwortung für das Befinden ihres Gegenübers übernommen haben, mit ihrer Aufmerksamkeit – meist ohne es zu merken – im Innenraum des anderen und verlieren den Kontakt zu sich selbst.
Ziel der von Blaser angeleiteten Übungen ist, mentale Bewegungsfreiheit zu erlangen, das heißt, sich wach und spürgenau zwischen den eigenen (Innen-)Räumen und denen anderer zu bewegen. Dazu gehört auch die Akzeptanz geschlossener Räume, das heißt von Geheimnissen. Und es verlangt ein Gespür dafür, den Innenraum eines anderen Menschen nur auf dessen ausdrückliche Einladung hin zu betreten und uns dort auch nur so lange aufzuhalten, wie uns Gastrecht gewährt wird.
Das Nein, zu dem ja zu sagen Blaser seine Leser einlädt, setzt also ein tiefes Verständnis dafür voraus, dass wirkliche, wohltuende Nähe der klaren Grenzziehungen bedarf. Erst dann gilt, dass Grenzen verbinden.
Wie bei vielen Büchern, die ein konkretes, in einer Gruppe praktiziertes Programm als Text präsentieren, gelingt dieser Transfer sicher bei jedem Adressaten anders. Teils beruht die Wirkung der Übungen und Aufgaben in einem Workshop nicht allein auf der Methode, sondern auch auf den unterstützenden und inspirierenden Kontakten zwischen den Gruppenmitgliedern. Diesen Effekt können die Fallgeschichten im Buch nur begrenzt haben. Wer vertraut ist mit Achtsamkeitsübungen, wird aber auch für sich allein Anregungen finden, um ein verantwortungsvolles Nein einzuüben. Ein Nein nicht nur anderen, sondern auch sich selbst, den eigenen Reaktionsbildungen und manipulativen Gewohnheiten gegenüber.
Ruffer: Reicher Erfahrungsschatz und hilfreiche Checklisten
Vor dem Hintergrund der Erfahrungen in seiner Praxis für Psycho- und Paartherapie betont auch das Autorenduo Gisela und Herbert Ruffer, wie wichtig es ist, „seine Gefühle wahrzunehmen, zuzulassen und in ihnen zu lesen“, um Grenzen zu wahren. Ausgehend von dem entwicklungspsychologischen Stufenmodell Erik H. Eriksons, analysieren sie anhand einleuchtender Beispiele die vielfältigen Quellen unserer Schwierigkeiten, nein zu sagen. Dabei wird deutlich, wie oft das Ja einem anderen gegenüber ein Nein zu sich selbst bedeutet – bei vielen Menschen schon von Kindheit an. Was es also zu lernen gilt, ist, wie schon der Titel des Buches andeutet, selbstbewusst Nein zu sagen, „weil Selbstliebe und ein gesundes Selbstwertgefühl die Voraussetzungen dafür sind, Grenzen klar kommunizieren zu können“.
Zahlreiche Übungen, Beispielgeschichten und Checklisten bieten auch in diesem Buch Gelegenheit, das Gelesene umzusetzen. Besonders anregend für die Praxis sind dabei die Ausführungen zum Thema „Wer Nein sagt, muss auch Nein meinen: ‚Ihr Auftritt‘“. Hier finden sich einleuchtende Hinweise dazu, wie wir unseren Erfahrungen mit eigenen Grenzziehungen auf die Spur kommen – und sie verändern können.
Das Buch lebt von dem reichen Erfahrungsschatz der beiden Autoren und von ihrem Bestreben, ihre Analysen und Anregungen theoretisch zu fundieren. Die zahlreichen Exkurse – beispielsweise zu Kommunikationsregeln, den Grundsätzen der gewaltfreien Kommunikation, Loyalitätskonflikten und dem Zusammenhang von Schuldgefühlen und Abhängigkeit – sind anschaulich und machen den Text über die Grenzen des Themas hinaus interessant.
Die drei Autoren wählen einen unterschiedlichen Zugang zum Thema „Nein sagen – Grenzen setzen“, stimmen aber in den elementaren Punkten überein. Die beiden Bücher ergänzen sich: Wer während der acht Trainingswochen, zu denen Blaser einlädt, begleitend das Buch von Gisela und Herbert Ruffer liest, dürfte einen produktiven synergetischen Effekt erleben.
Klaus Blaser: Sag Ja zum Nein sagen. Das Trainingsprogramm zur Stärkung der eigenen Grenze. Mit Übungs-CD. Klett-Cotta, Stuttgart 2020, 240 S., 25,–
Gisela Ruffer, Herbert Ruffer: Selbstbewusst Nein sagen. Grenzen setzen – Grenzen achten. Junfermann, Paderborn 2019, 183 S., € 26,–