Liebe Patientinnen und Patienten,
die Corona-Pandemie versetzt uns alle gerade in einen Schockzustand. Für viele dürfte das Empfinden so ähnlich sein wie bei einem Menschen nach schwerem Unfall: Er wacht in der Klinik allmählich aus der Narkose auf, kann noch gar begreifen, was passiert ist, spürt aber eines ganz gewiss: Das Leben wird nie wieder so sein wie zuvor. Wir alle erfahren derzeit sehr deutlich, wie verletzlich wir als Lebewesen sind, wie fragil unser Zusammenleben in der Welt ist. Die frühere Unbeschwertheit und Unbesorgtheit, die manche von uns vielleicht glücklicherweise noch hatten, ist nun für uns alle nie wieder so leicht zu erleben.
Es geht jetzt darum, unsere seelische Verletzung gut zu versorgen. Das ist unter den Bedingungen nicht leicht. Ein paar eher assoziative Anregungen möchte ich hier geben.
Ein gutes inneres Objekt
Ein wichtiger Punkt ist, sich in Verbindung mit anderen zu fühlen. Ganz gleich, ob Sie alleine oder in Gemeinschaft leben, es ist hilfreich ein „gutes innere Objekt“ zu haben, ein Wesen, das sie ansprechen können, das Ihnen zuhört und mitfühlend reagiert. Vielleicht haben Sie so ein Wesen in der Kindheit gehabt, Eltern, Oma, Freund oder Freundin oder auch ein Tier, mit dem sie alles teilen konnten. Wenn Ihnen so etwas damals gefehlt hat, ist es jetzt höchste Zeit, sich so etwas zu erfinden und mit ihm ins Gespräch zu kommen. Denken Sie nicht, dass Sie, wenn Sie mit so einem Wesen Selbstgespräche führen, in die Psychiatrie gehören. Diese inneren Dialoge, auch laut gesprochen, sind wichtig dafür, sich als lebendig und in Beziehung zu erleben.
Die eingeschränkte Bewegungsfreiheit ist für jeden Menschen eine Zumutung und kann zu einer Art „Knast-Koller“ führen. Für manche von Ihnen kommen noch Erfahrungen aus der Kindheit hinzu, die diese Einschränkung umso schwerer erträglich machen. Denn früher wurden Babys und Kleinkinder manchmal in ein abgelegenes Zimmer oder in eine Gartenecke gestellt. Wenn sie dann schrien und niemand sie hörte und kam, konnten sich die Verlorenheitsgefühle zu Todesängsten auswachsen. Es kann sein, dass solche frühen Erfahrungen in der aktuellen Situation Ängste auslösen. Umso wichtiger ist dann, sich klarzumachen, dass wir keine Babys mehr sind: Wir können Licht einschalten, an den Kühlschrank gehen, jemanden anrufen. Auch nachts.
Auf diejenigen unter Ihnen, die zwar in Gemeinschaft leben, aber auch so schon in einer angespannten Beziehung steckten, kommt jetzt eine immense Herausforderung zu. Wie bei zwei Seglern, die sich gestritten haben, nun aber gemeinsam das Boot durch den Sturm lenken müssen, gilt auch in solchen Beziehungen: Im Alltag müssen beide als eingespieltes Team funktionieren, die Konflikte müssen mit Disziplin und Struktur aufgeschoben werden auf vereinbarte Zeiten: Nach Ostern oder einmal die Woche abends in einem festen Ritual. Unkontrollierter Streit im Alltag geht jetzt genauso wenig wie Party machen.
Ohnmachtsgefühle
Projekte und Vorhaben zu entwickeln, hilft gegen die Ohnmachtsgefühle. Manche mögen denken: Na, wenn schon alles stillsteht, dann ist das die Gelegenheit, mal dies oder jenes auszumisten. Ordnung zu schaffen, ist sicher gut, aber nicht, wenn die Gefahr besteht, dass man sich jeden Abend ärgert, weil man wieder zu wenig geschafft hat. Innere Stimmen, die einen beschimpfen, braucht unsere verwundete Seele im Moment am allerwenigsten.
Es sollte also erstmal etwas Schönes sein, etwas, das die Seele erfreut. Und der Stillstand des sozialen Lebens bietet die Chance, etwas zu tun, wovon man bisher nicht mal geträumt hat. Sie könnten zum Beispiel Tagebuch schreiben, Ihre Träume notieren, malen oder fotografieren.
Der schweren Verwundung unserer Vorstellung, unverletzlich zu sein, lässt sich nicht mit Stärke und Willenskraft begegnen. Haben Sie schon einmal geweint in diesen Tagen? So viele Vorhaben, auf die wir uns gefreut hatten, fallen weg. Soviel Ängste um Existenz und Gesundheit bedrücken uns Tag und Nacht. Jetzt helfen keine Durchhalteparolen und kein Beharren auf Stärke. Wichtig ist deshalb, dass wir gewährend und fürsorglich mit der Verletztheit der Seele umgehen und vor allem liebevoll zu uns selbst sind. Das kann helfen, gelassener mit all dem umzugehen, was noch an Einschränkungen und Ungemach auf uns zukommen mag.
Mit herzlichen Grüßen,
Ruth Waldeck