Wie wir uns selbst sehen

Psychologie nach Zahlen: Drei Perspektiven, aus denen wir uns selbst wahrnehmen.

Die Illustration zeigt einen Mann der auf dreierlei Weise in seinen Kopf schaut und dabei aus verschiedenen Perspektiven sich selbst wahrnehmen möchte
Ich kann mich so oder so oder so sehen. Doch was steckt drin? © Till Hafenbrak

Sobald das Ich ins Spiel kommt, wird es knifflig. „Worüber auch immer ich nachdenke“, schrieb der große Psychologe William James 1892, „ich bin mir währenddessen immer mehr oder weniger meiner selbst, meiner persönlichen Existenz bewusst. Gleichzeitig bin ich derjenige, der sich dessen bewusst ist.“ Das Selbst, so James, ist also gleichzeitig das Beobachtete wie auch der Beobachter. Es ist sowohl Objekt als auch Subjekt. Das Selbst als Objekt unseres Nachdenkens nannte James Me, das Selbst als Subjekt nannte er I.

Der amerikanische Psychologe Dan McAdams knüpft nun in einer Sonderausgabe des Journal of Personality an diesen Gedanken an und schraubt ihn ein Stück weiter. Er macht drei Erscheinungsweisen ausfindig, in denen ich (als I) mir selbst (als Me) gewahr werden kann: als eigenständiges soziales Wesen, als handelnder Akteur und als Autor der eigenen Lebensgeschichte. Und alle diese drei Perspektiven der Selbstbetrachtung, meint McAdams, sind anfällig für Pannen bis hin zu psychischen Störungen.

1 Ich als separates soziales Wesen

Meist gegen Ende des zweiten Lebensjahrs beginnen Kleinkinder, sich selbst in ihrem Spiegelbild zu erkennen. Das I entdeckt das Me. Schaut, das da bin ich! Etwa zur selben Zeit benutzen Kinder erstmals Wörter wie „mich“ und „mir“ und zeigen selbstbezogene Emotionen wie Stolz oder Scham. Sie nehmen sich als ein Selbst wahr, separat von Mutter, Vater und Geschwistern, die ihrerseits als eigenständige soziale Wesen erkannt werden. Auch beginnen die Kinder nun allmählich, sich als ein Träger von Eigenschaften zu sehen: Ich bin ein hübsches Mädchen, bin launisch, scheu, hochnäsig, lustig.

Dies ist das Ergebnis einer komplexen kognitiven Errungenschaft, nämlich der Fähigkeit, sich selbst gedanklich von außen zu betrachten, aus der Perspektive einer dritten Person. Das bringt neue Fragen mit sich: Was denken die anderen jetzt von mir? Wie komme ich an? Mit diesem Perspektivwechsel werden wir zu Akteuren in der „sozialen Arena“, wie McAdams es nennt, in der wir alle einander Darsteller und Publikum sind. Nun fangen wir an, Rollen einzunehmen, um den Erwartungen der anderen und sozialen Normen zu entsprechen. Dieser Blick von außen ist ein wichtiges Korrektiv.

Er kann aber auch zum Problem werden: Essgestörte Menschen mit einer Anorexie oder Bulimie etwa seien geradezu besessen von ihrem – verzerrt wahrgenommenen – Erscheinungsbild, schreibt McAdams: „Das I kann seine Augen nicht vom physischen Me lassen.“ Auch mit der Angewohnheit, sich selbst mit dem (vermeintlichen) Blick der Menschen um einen herum zu mustern, kann man es übertreiben: Menschen mit einer Sozialphobie haben permanent Angst, sich vor den anderen zu blamieren. Wer an einer Borderlinestörung leidet, ist ebenfalls extrem auf die Werturteile anderer fixiert.

2 Ich als Akteur mit eigenem Willen

Doch niemand kann sich ständig von außen betrachten. Der natürliche Modus – vor allem wenn wir in Aktion treten – ist die Binnenperspektive: Wir nehmen uns als Verursacher wahr, als jemand, der eigengesteuert handelt und dort draußen in der Welt etwas bewirkt. Wir empfinden uns als Instanz mit Wünschen, Motiven, Zielen und Plänen, die wir unter Einsatz unseres Willens umsetzen.

Dieser Bezugsrahmen der Selbstwirksamkeit ist uns von klein auf vertraut: Schon neun Monate alte Babys können absichtliches von zufälligem Verhalten unterscheiden. Nimmt man sich selbst nicht als Verursacher des eigenen Handelns wahr, ist dies oft beängstigend und Ausdruck einer vorübergehenden oder dauerhaften Störung. Bei einer Depersonalisation etwa haben Menschen das Gefühl, neben sich zu stehen, als hätten sie es mit einem Fremden zu tun. Und an einer Schizophrenie Erkrankte haben oft den Eindruck, nicht Herr im eigenen Haus zu sein, „als müsste ich mich zu meiner eigenen Party einladen“, wie es ein Patient des Psychiaters Larry Davidson ausgedrückt hat.

Bisweilen nimmt sich das handelnde Ich selbst ins Visier. Es betreibt Introspektion: Was will ich? Was ist mir wichtig? Welches Ziel strebe ich an?

Probleme können auftreten, wenn diese Ziele unklar definiert oder zu anspruchsvoll oder zu anspruchslos gewählt sind. Oder wenn der Weg dorthin nicht klar abgesteckt wurde. Dann stellt sich vielleicht das Gefühl ein, nicht vom Fleck zu kommen. Man fühlt sich als Versager. Mögliche Folgen: Burnout, Depression oder eine bipolare Störung, bei der manische Omnipotenz sich mit depressiven Abstürzen abwechselt.

3 Ich als Autor meines Lebens

Wieso haben wir eigentlich das felsenfeste Gefühl, immer noch dieselbe Person zu sein wie vor zwei oder zwanzig Jahren – obwohl wir uns doch in mancherlei Hinsicht verändert haben? Diese Kontinuität unserer Identität ist uns ein wichtiges Gut und wir haben eine sehr gebräuchliche Methode, uns ihrer zu versichern: Wir erzählen uns – gegenseitig oder innerlich – Geschichten über uns selbst: Weißt du noch, wie das damals war?

Wir schreiben fortlaufend an einem „Narrativ“ unseres Lebens. Das I erzählt die Geschichte des Me, eine Erzählung mit Höhen, Tief- und Wendepunkten, wiederkehrenden Themen und Konflikten, Helden und Schurken. Auf diese Weise verschaffen wir uns „narrative Identität“: So wurde ich zu der Person, die ich heute bin.

Diese Konstruktion von Sinn und Kohärenz kann ins Wanken geraten, wenn uns etwas sehr Schreckliches widerfährt: Bei einer posttraumatischen Belastungsstörung ragt die traumatische Episode – der Unfall, die Vergewaltigung – als ein monströser Fremdkörper aus der Lebensgeschichte heraus und sie kann oft nicht einmal als zusammenhängendes Geschehen erinnert werden. Stattdessen drängen sich panikbesetzte Bruchstücke des Erlebten immer wieder ungebeten ins Bewusstsein. In einer narrativen Therapie wird dann versucht, diese Splitter des Selbst einzufangen und sie in die Lebenserzählung zu integrieren: als schmerzlicher Bestandteil des Me. PH

Dan P. McAdams: Psychopathology and the self: Human actors, agents, and authors. Journal of Personality, 2019. DOI: 10.1111/jopy.12496

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 3/2020: Ruhe im Kopf
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