Der Psychologe Tomás Navarro geht in seinem Ratgeber von einem schönen Bild aus: Kintsugi heißt eine traditionelle japanische Methode zur Reparatur von Keramik. Das Besondere: Bruchstellen der Scherben werden bei dieser alten Handwerkskunst nicht etwa verborgen, sondern mit Goldstaub schmückend hervorgehoben – Zerbrechlichkeit als sichtbares Schönes. Diese Metapher der Goldreparatur überträgt Navarro auf die Zerbrechlichkeit des menschlichen Daseins.
Ausgehend von diesem fast zärtlichen Bild entwickelt der Autor einen Ratgeber für den Umgang mit Schicksalsschlägen, Unglück und Krisen aller Art. Das Buch versteht sich als Hilfsmittel zum Wiederaufbau des Lebens, nachdem dieses in Trennung, Kündigung, Krankheit oder Verlust eines geliebten Menschen zerbrochen ist und neu zusammengefügt und geordnet werden will. Der Psychologe flicht konkretes Praxis- und Fallwissen ein. Dabei gelingt es ihm, eine konstruktive Sichtweise auf Situationen vorzuschlagen, die nicht in die unrealistischen, weil zu optimistischen Fallstricke positiver Psychologie abgleitet, aber auch nicht in Traumatisierung und resignierenden Opfergefühlen verharrt. Esoterischen Wunschfantasien einer wunderbaren Seelenheilung wiederum setzt Navarro konstruktiven Pragmatismus entgegen, die zielgerichtete Aktion: Wer sich selbst aufbauen will, muss handeln.
Reinigung emotionaler Wunden
Was ist nun aber seine Antwort auf Unglück? Analyse, Akzeptanz und ressourcenorientierter Wiederaufbau, ein Zukunftsplan, der nach Schönem Ausschau hält und dieses ins Leben zieht. Navarro präsentiert grundlegendes Wissen wie Martin Seligmans Erkenntnisse zu der erlernten Hilflosigkeit oder John Watsons menschliche Reaktionsweisen auf Unglück (von Kampfgeist über Fatalismus bis zu angespannter Sorge). Der Heilungsimpuls, so macht der Autor Mut, liege nach Reinigung und Desinfizierung emotionaler Wunden in der menschlichen Natur.
Navarro verfällt dabei etwas dem heutigen Machbarkeitsdenken und übersieht, dass manches Unglück seine Zeit – anstelle von Aktionismus – fordert. Ihm aber ist die Botschaft wichtig: Ich habe erlebt, dass Menschen, die ihr Leben aus Scherben neu zusammensetzen mussten, anschließend lebendiger, voller und mit mehr Lebensgenuss lebten.
So enthüllt sich hinter Kintsugi eine fernöstlich inspirierte Philosophie der Anerkennung der Bruchlinien des Lebens und eine Wertschätzung dessen Fehlerhaftigkeit. Jeder kann Narben, Lebensspuren als Stärke, als Ressource, Wissen und Erfahrung deuten.
Ein Buch, dessen entschiedener Appell an Selbstwirksamkeit bei Traumatisierungen keine Therapie ersetzen, aber einen Lebensfunken neu entzünden dürfte. Psychotherapeuten gibt Navarro ein konstruktives, ja poetisch-heilsames Bild für Neuanfang an die Hand, nachdem eine Welt in Scherben lag: die mit Goldstaub umsorgte Seele.
Tomás Navarro: Kintsugi. Die Kunst, emotionale Verletzungen zu heilen. Aus dem Spanischen von Maria Hoffmann-Dartevelle, Kösel, München 2019, 368 S., € 20,–