Es schien eindeutig: „Sie haben eine posttraumatische Belastungsstörung“, hatten mir Ärzte in einer Klinik gesagt. Es waren Bilder hochgekommen, von denen ich keine Ahnung hatte. Sie suggerierten ein Ereignis, das 26 Jahre zuvor stattgefunden hatte. Sie waren schlimm, klar, dass man da traumatisiert ist. Ich war ein Kind, damals, vor 26 Jahren. Es schien eindeutig.
Es begann mit vermeintlich harmlosen Dingen. Ich war gerade in eine neue Stadt gezogen, hatte im ICE eine Frau kennengelernt, mit der ich kurz darauf zusammenzog, es ging mir gut. In dieser Zeit schlichen sich die ersten schlaflosen Nächte ein, mal schlief ich sechs Stunden, mal zwei, mal gar nicht. Es kam Schwindel auf, plötzlich auf der Straße, in der Schlange vor der Supermarktkasse. Übelkeit, und ich wusste nicht warum, Summen im Ohr. Ich sah mich nach einer Mücke um, und verstand erst nicht, dass das Summen von innen kam.
Ich hatte Herzrasen, in Ruhemomenten plötzlich einen Puls von 120. Besonders perfide war die „Herzneurose“: wenn es plötzlich im Herzen sticht, wenn es dumpf schmerzt, es im Brustkorb zuckt, obwohl medizinisch alles in Ordnung ist. Nur weiß man das als Betroffener nicht, in diesem Moment. In der Folge war ich oftmals in der Notaufnahme eines Krankenhauses: EKG, Blutwerte, alles in Ordnung: „Sie können nach Hause gehen, junger Mann.“
Herzneurose, Depression und Panikattacken
Ein andermal, nachdem ich wieder starke Schmerzen hatte, hat mich eine junge, übermotivierte Assistenzärztin nach dem ersten Durchchecken in die Intensivstation gesteckt. Sie sagte, dass ein Herzinfarkt auch bei unauffälligen Blutwerten und bei unauffälligem EKG geschehen sein könne, sie wolle mich über Nacht zur Beobachtung hierbehalten. Natürlich schlief ich nicht, mit den ganzen Kabeln und Pieptönen der Apparate, ich sah zum ersten Mal in meinem Leben eine Bettpfanne, und verstand nicht, wie man sie unfallfrei bedienen konnte. Bei der morgendlichen Visite sagte ich: „Ich will nach Hause, mir geht es gut, es war nur meine Herzneurose…“
Mir ging es zunehmend schlecht, ich wurde depressiv, entwickelte Klaustrophobie und konnte nicht mehr U-Bahn fahren, ich bekam Panikattacken. Am schlimmsten waren die Dissoziationen: „neben sich stehen“ in seiner schlimmsten Ausprägung, das Gefühl, im Kopf bricht gerade etwas weg, der Verstand, die Chemie, was auch immer. Meine Hausärztin sagte: „Wir müssen etwas tun.“
Ein paar Wochen später – ich stand auf der Dringlichkeitsliste und hatte kurzfristig einen Aufnahmetermin bekommen – fuhr ich mit dem Auto zu einer psychosomatischen Klinik. Es war Winter, Schnee, sehr pittoresk: das blauviolette Licht, das flach abfallende Tal, die Wälder, Wiesen und Heuschober, und die Bergzacken wie die einbetonierten Glasscherben auf einer Schutzmauer im Hintergrund. Zunächst verlief es so, wie ich es mir zuvor begeisterungslos vorgestellt hatte: Rückengymnastik vor dem Frühstück, Ergotherapie, Sport, tanzen, und Gespräche natürlich, allerdings nur zweimal in der Woche. Ich hätte gerne öfter geredet, denn das konnte ich gut, solange ich die Oberhand behielt. Mein Arzt nannte mich beherrscht und verkopft.
Bilder aus der Vergangenheit?
Ich lernte eine Frau kennen, wir waren von Anfang an aufeinander zugeflogen, nicht sexuell, eher platonisch. Sie war vergewaltigt worden, als junges Mädchen, das hatte sie mir erzählt, in einem schmucken Café in dem Städtchen, das nahe der Klinik lag. Ich hatte keine Fragen gestellt, sie hatte einfach begonnen, zu berichten.
Am Abend desselben Tages braute sich etwas in mir zusammen. Es wurde schwarz um mich herum, ein innerer Strudel zog mich hinunter. Ich ahnte, dass sich etwas Bahn brach, ich ging hinunter und setzte mich zu ein paar Leuten, die ich kannte und die Brettspiele spielten. Eine Frau nahm mich beiseite, als ich immer apathischer wurde. Als ich zitterte und weinte und kaum noch etwas um mich herum wahrnahm, holte jemand die Nachtschwester.
Ich bekam zwei Tavor, doch bevor sie wirkten, kamen plötzlich Schreie, Jungmädchenschreie, die sich in meinem Kopf ausbreiteten wie ein Echo in den Bergen. Und es zeigte sich ein Bild in meinem Kopf, eine rosafarbene Blümchentapete, aus dem Kinderzimmer im elterlichen Haus , wie ich später vermutete. Die Nachtschwester sagte zu mir: „Ich habe die Nachtärztin gerufen.“ Als die Ärztin kam, begannen die Tabletten zu wirken. Ich werde nie vergessen, wie die schwäbische Nachtärztin auf mich einwirkte. Sie sah mich mit weit aufgerissenen Augen an und sagte, nein, brüllte mir ins Gesicht: „Vergangenheit isch Vergangenheit, Sie haben überläääbt!“ - überläääbt mit drei ä.
Mein Arzt sagte am nächsten Tag: „Da ist etwas, das müssen wir uns ansehen.“ Ich war über Nacht zum Traumapatienten aufgestiegen. In den folgenden Wochen ging es darum, mich zu stabilisieren, das bedeutete: noch mehr Sport und noch mehr tanzen, aber auch mehr Gespräche. Der Arzt begann behutsam über die Geschehnisse an dem besagten Abend zu reden, fragte nach, wem ich die Schreie zuordnete, und ich erwiderte sofort: meiner Schwester, obwohl ich bis dahin nicht mehr als die Blümchentapete gesehen hatte.
Sie lebt in einem fernen europäischen Land, ich hatte keinen Kontakt mehr zu diesem Zeitpunkt. Sie sagt, sie habe eine glückliche Kindheit und Jugend gehabt – trotz Magersucht, Depressionen (bipolar), Psychosen und Suizidversuchen. Jeder hat seine eigene Realität und Wahrnehmung.
Sie nennt mich „mein großer Bruder“, obwohl sie sieben Jahre älter ist als ich – sie ist mir nicht gut bekommen, diese Rollenzuschreibung. Am schlimmsten waren ihre manischen Phasen. Es heißt, man habe dann Glücksgefühle. Sie hat geschrien und war hysterisch, stundenlang. Ich brach den Kontakt als erwachsener Mann zu ihr ab, dennoch schickte sie mir Briefe, die ich nicht öffnete und auf deren Umschlägen schon Wörter standen, die ich nicht verstand: „I love you“. Sie rief mich an, ich ging nicht dran, sie sprach auf dem Anrufbeantworter zehn Minuten lang oder länger, mir lief es kalt den Rücken runter, schon, wenn ich nur ihre Stimme hörte, und die ersten Worte: „Warum meldest du dich nicht, magst du mich nicht?“
Mit EMDR zum Urpsrung der Schreie
In der Klinik wurde ich auf ein hypnoseähnliches Traumaverfahren vorbereitet. Mein Arzt wollte mit EMDR in die Szene gehen, in der ich mich an dem Abend, an dem ich abgestürzt war, befunden hatte, und die durch die Medikamente wie mit der Pausentaste abgebrochen worden war, nachdem sich die rosafarbene Blümchentapete gezeigt hatte. In die Schreie gehen, in den schwarzen Strudel, der mich herunter gezogen hatte, die Pausentaste wieder drücken, jetzt, um den Film laufen zu lassen. Die Bilder sehen, um sie danach abzulegen in die richtigen Hirnareale. EMDR: Eye-Movement Desensitization and Reprocessing, wie der korrekte, etwas sperrige Begriff ist, oder, wie es in Therapeutenkreisen umgangssprachlich heißt: Einmal Musst Du Ran.
Traumata verändern die Hirnstruktur, bei Amnesie sind die Ereignisse in den „falschen“ Hirnarealen abgespeichert. Dennoch reagiert man auf Trigger, ohne zu wissen, weshalb. Mit EMDR werden die Areale miteinander in Verbindung gebracht.
Ich stimmte zu und fühlte mich bedeutungsvoll, weil so etwas in der Klinik sehr selten vorkam, wie mir mein Arzt versicherte, jeder der Therapeuten in diesem Haus wusste über mich Bescheid.
Auf Geheiß meines Arztes verfolgte ich mit den Augen seinen Zeigefinger, der sich wie ein Scheibenwischer hin und her bewegte. Dann schloss ich die Augen und klopfte mit den Händen im Zweitakt auf meine Oberschenkel. „Wir gehen rein in die Szene, Sie hören die Schreie“, und tatsächlich, wie aus dem Nichts hörte ich die Schreie. Ich klopfte weiter auf meine Schenkel und folgte der Stimme des Arztes, und, nun ja, dann sah ich die Bilder: Ich durfte nicht hinsehen. Wurde mit Waffengewalt bedroht. Sah doch hin. Aus Wut schlugen sie meinen Kopf gegen die Tischkante. Bis es weiß um mich herum wurde. Es wird in den folgenden Zeilen keine weiteren Details des Vorfalls geben. Einbrecher, vermutlich waren es zwei Einbrecher und die Eltern waren vermutlich beide nicht im Haus. Vermutlich.
Der Arzt war erschrocken, nachdem er mich zurückgeholt hatte, mehr als ich, wie mir schien. „Das kann nicht sein“, sagte ich, er schwieg.
Ohne Erinnerung keine Identität
In den folgenden Tagen redeten wir über die Geschehnisse, ich sagte immer noch, es könne nicht sein. Der Arzt erwiderte, dass es immer die Möglichkeit der false memories gebe, der falschen Erinnerungen, doch er fügte hinzu, dass es plausibel sei, so konkret, wie ich die Bilder in der EMDR-Sitzung beschrieben hatte. Er meinte, es sei so geschehen, mit einer „Wahrscheinlichkeit von weit über 90 %“. Mein Kopf schwirrte unentwegt.
Der Arzt sagte: „Kein Wunder, dass ihre Schwester so drauf ist wie sie ist, sie ist auch traumatisiert.“ Bipolar, magersüchtig, psychotisch, suizidal: Hatte das den gleichen Ursprung wie meine, wie es mir erschien, eher harmlosen Befindlichkeiten?
Wie alt war ich, als es vermutlich geschehen war? Neun, vielleicht zehn, es war schwer, das Alter eines Jungen aufgrund von Hypnosebildern zu schätzen. Etwas anderes stützte meine Schätzung: Ich habe keine Erinnerungen an meine Kindheit, die ersten bewussten Bilder beginnen mit neun. Wir fuhren nach Griechenland, das Schiff glitt durch den Kanal von Korinth, genau hier setzen meine Erinnerungen ein: Ich sehe vor mir, wie griechische Männer den Soldaten an den Kanalufern Zigarettenstangen zuwerfen, manche fallen ins Wasser, die Zigaretten. Vermutlich also war ich neun Jahre alt, mein Arzt sprach von retrograder Amnesie.
Wer keine Erinnerung hat, hat keine Identität.
So verließ ich die Klinik mit Bildern im Kopf, von denen ich zuvor nichts geahnt hatte und die ich jetzt für bare Münze nahm.
Zurück zuhause versuchte ich den Abgleich mit der Realität. Ich musste mit meinen Eltern sprechen, klar, sie fragen: War da was? An meine Schwester traute ich mich noch nicht heran. Ich hatte mir das jahrelang mühsam erkämpft: mich vor ihrem Wahnsinn zu schützen. Ich wollte nicht die Deutung meiner Vergangenheit in ihre Hände legen, es ihr überlassen, ob das Geschehene geschehen war.
Bevor ich mit meinen Eltern sprach, begann ich zu schreiben. Einfangen, was erratisch herumschwirrte, aufschreiben, was in der Klinik und davor geschehen war. Ich schickte die ersten 20 Seiten ein, bekam Stipendien. Ich sendete die Zeilen an Verlage. Ein Verlag war interessiert, es gab ein Treffen in einem Café , ich bekam eine mündliche Zusage. Eine bekannte Schriftstellerin, die ich im Rahmen eines Stipendiums kennengelernt hatte, vermittelte den Roman an ihren Lektor, eine andere an ihren Verleger.
Aus all dem wurde nichts, weil die meinem Roman zugrundeliegende wahre Geschichte zu diesem Zeitpunkt nicht zu Ende erzählt worden war, der Abgleich mit der Realität, an den ich mich fiktional herangetraut hatte, war in der Folge nicht schlüssig, nicht glaubwürdig: In der Realität gab es zunächst keine Bestätigungen, lediglich vage Indizien, die die Aussagekraft der Bilder unterstützten. Außerdem vermutete ich, dass man mir das übelnahm: Deine Schwester wurde vergewaltigt und du schreibst über dein Leid. Durfte ich das, in diesem Kontext über mich schreiben? Darf ich das heute angesichts der Pein ukrainischer Frauen und Kinder? Ich entschied mich und entscheide mich heute für ja, aber es fällt mir nicht leicht.
Gespräch mit den Eltern gesucht
Dann konfrontierte ich meine Eltern mit der Sache. Ich hatte mich lange davor gedrückt, weil ich auch bei ihnen die Sorge hatte, die Kontrolle, die Deutungshoheit über meine Geschichte, über mein Leben könne mir entgleiten. Mein Vater hat noch nie über die Vergangenheit reden wollen: über seinen Krieg, in den er mit 18 eingezogen worden war, über unser schwieriges Verhältnis, über den Wahnsinn meiner Schwester, und weshalb er mich damit allein gelassen hatte, als ich ein Kind war. Ich hatte ein paar Mal das Gespräch gesucht, in früheren Jahren, er war einfach aufgestanden und gegangen, ohne etwas zu sagen. Ich wusste, wenn ich von „früher“ reden würde, würde er abblocken, misstrauisch sein, egal, was es war. Ich versuchte es dennoch.
Wir saßen in einem Restaurant , griechisch, mit farbenstark gemusterten Kacheln und gerahmten Schwarzweißaufnahmen an den hohen Wänden. Lamm, mit grünen Bohnen und Reisnudeln. Ich wich als Notbehelf auf medizinische Zusammenhänge aus, ich wollte „psycho“ vermeiden, ich musste etwas wählen, womit ich meinen Vater hätte erreichen können, „psycho“ befand sich nicht in seinem Repertoire, obwohl er selber depressive Phasen hatte. Ich sagte, dass ich eine schwere Kopfverletzung in der Kindheit gehabt haben musste, sagte wahrheitswidrig, dass das Ärzte herausgefunden hatten, Neurologen, mit einem CT. Mein Vater war misstrauisch und sagte, das könnten keine seriösen Ärzte sein, und: „Du hattest schon immer eine blühende Phantasie!“ Und dann, wie aus dem Nichts sagte er plötzlich: „Wenn da etwas war, wüsste das ja deine Schwester, die war schließlich auch dabei.“
Mein Vater brach das Gespräch ab. Ich hatte mich zu entscheiden, ob ich eine Szene machte. Ich blieb ruhig und aß meine Lammkeule, die mir nicht schmeckte. Ich gab nach, es war sinnlos. Als mein Vater rausging, um etwas Luft zu atmen, wie er sagte, wandte ich mich noch mal an meine Mutter. Ich berichtete ihr von den Bildern und drohte, dass sie das heranwachsende Kind nicht sehen würde, wenn sie jetzt log.
Ich wurde Vater, nicht mit der Frau aus dem ICE, ich hatte inzwischen eine andere kennen gelernt, in der psychosomatischen Klinik, auch wir hatten schnell zusammengefunden, das Kind war schon unterwegs. Meine Mutter weinte und sagte, dass da nichts war, wovon sie Kenntnis hatte. Sie weinte und sah todtraurig aus.
Ich glaubte ihr.
Doch der Satz meines Vaters hallte in mir nach: „Wenn da etwas war, wüsste das ja deine Schwester, die war schließlich auch dabei.“ Ich hatte ihm gegenüber noch nichts von meiner Schwester gesagt, das Gespräch war ja über die Kopfverletzung nicht hinausgegangen. Warum hatte er das gesagt? Ich hatte den irren Gedanken, dass mich das Schicksal ärgern wollte.
Kurze Zeit darauf bekam mein Vater einen Schluckauf, der zehn Tage dauerte, weswegen er sogar für ein paar Tage im Krankenhaus war. Erst mit Tavor hat man ihn bändigen können, den Schluckauf.
Ein paar Wochen später gingen meine Eltern auf Reise. Ich hatte die Schlüssel zu ihrem Haus, in einer Stadt im Westen Deutschlands. Ich fuhr mit dem ICE dorthin und schaute nach dem Rechten, ab und zu.
In Tagebüchern auf der Suche nach Antworten
Und dann habe ich etwas getan, worauf ich nicht stolz bin: Ich habe in seinen Tagebüchern gestöbert, nein: Ich habe sie durchforscht, systematisch, jeden einzelnen Tag, aus den Jahren, in denen ich neun Jahre alt war, sicherheitshalber auch zehn, elf und zwölf. Es schien mir richtig, aus meiner Not heraus, dennoch war es falsch.
Es waren Taschenkalender, die alle akkurat in einer großen Schublade gestapelt waren, mit einer Seite für jeden Tag. Mein Vater hatte nie etwas Persönliches geschrieben, es ging nicht um Gefühle, um etwaige Gewissensbisse, Schuld, Freude, Glück. Es waren ausschließlich Benennungen von dem, was er an diesem Tag getan hatte: „Faulenzen im Garten“, „Rasen gemäht“, „Abendessen mit Ehepaar V.“ Ich durchforschte und durchforstete die kleinen Kalenderbücher und fand schließlich eine Auffälligkeit: vom 13. Juni bis 8. August eines Jahres in den Siebzigern gab es keine Einträge, ausnahmslos, was ungewöhnlich war, da mein Vater ansonsten vorher und nachher keinen einzigen Tag ausgelassen hatte, Jahr für Jahr. Der letzte Eintrag, 12. Juni: „ Gisela nach Bad soundso gebracht, sechs Wochen Kur.“
Ich war ratlos, nachdem ich die Notizbücher durchforstet hatte, ich machte mir Gedanken, natürlich. Zwei Stimmen in mir versuchten die Oberhand zu gewinnen, ein innerer Zwiespalt. Die eine Stimme sagte: „Wie kann das geschehen sein, ohne dass Lehrer, Nachbarn oder die Kinderärztin etwas mitbekommen haben?“ – „Es waren Sommerferien“, erwiderte die andere Stimme. „Wie kann es sein, dass die Mutter nichts wusste?“, fragte die erste. Die andere: „Sie war wochenlang auf Kur.“ – „Und dann, als sie wiederkam?“ – „Amnesie.“ – „Bei beiden?“ – „Unwahrscheinlich, aber möglich.“ – „Wieso fand ich nichts bei der Polizei, nach meinen Recherchen?“ Die Antwort der anderen Stimme: „Polizeiliche Einsätze sind nach mehr als 26 Jahren nicht mehr dokumentiert, zumal damals nichts digital erfasst worden war.“
Ich hatte umliegende Krankenhäuser angeschrieben, unsere Namen tauchten nirgends auf. In Zeitungsarchiven zu suchen wäre sinnlos gewesen: Jeder kannte jemanden, der jemanden kannte, dem etwas widerfahren war: ein Überfall an der roten Ampel, und die Verbrecher fuhren mit dem meist hochklassigen erbeuteten Auto davon, Überfälle auf offener Straße, Einbrüche. Nie hatten wir etwas darüber in den Zeitungen gelesen. Die Stadt hatte lange Zeit eine der höchsten Kriminalitätsraten in Europa.
Es hätte sein können.
Mit meinem Vater redete ich in dieser Sache kein Wort mehr. Ich traute ihm zu, dass er alles vertuschte, auch wenn es nicht sehr wahrscheinlich war. Warum hätte er es tun sollen? Aus Scham, seine Kinder nicht beschützt zu haben, an diesem einen Abend, an dem Einbrecher in das Haus eingedrungen waren, in dem sich zu der Zeit kein Erwachsener aufgehalten hatte. Aus Verdrängung: totschweigen, was nicht geschehen sein darf.
„Wie konnte ich den Bildern trauen?“
Es war nicht in sich schlüssig, wie ich heute, mit zeitlichem Abstand zugeben muss, aber es gab diese Bilder, mehr noch: die dazugehörenden Emotionen. Ich hatte ja nicht einfach nur einen nächtlichen Traum geträumt, dann war ich aufgewacht, und alles war gut. Ich hatte Symptome in den Wochen, Monaten und Jahren, nachdem ich die Bilder im Zweitakt der „EMDR-Hypnose“ gesehen hatte, und es hatte sich ja vorher etwas angebahnt. Noch heute ist es in den sehr seltenen Fällen, in denen ich von dem Geschehen berichte, immer noch so, dass die Hände zittern und die Stimme wegbricht.
Dennoch frage ich mich: Wie konnte ich den Bildern trauen? Hinterher ist man immer klüger.
Warum dieser Satz: „…deine Schwester war schließlich auch dabei“? Egal wie ich es drehe und wende: Manche Fragen bleiben unbeantwortet, damit muss ich leben.
Ich brach mit meinem Vater, heute ist es zu spät für eine Versöhnung, nicht nur, weil er vor kurzem gestorben ist. Auch in den Monaten und Jahren vor seinem Tod befand er sich mental jenseits von Gut und Böse, wie man so unschön sagt: Er war senil und manchmal desorientiert. Obwohl er nicht amtlich dokumentiert dement war, erkannte er mich nicht jedes Mal.
Ein paar Wochen vor seinem Tod hatte er seine Sachen in den Hängebeutel des Rollators gepackt und wollte abhauen, und als eine Pflegerin ihn abfing und ihn fragte, wohin er wolle, hatte er geantwortet, er müsse fliehen, vor dem Russen. Er war in Tschetschenien, zu Fuß mit der Wehrmacht, ist lange her, dennoch war es in seinem Kopf wieder sehr präsent. Die letzten Monate seines Lebens saß er seinem Pflegeheim in der Stadt im Westen, schon da war es zu spät, und vielleicht hatte ein 99-Jähriger auch das Recht, in Ruhe gelassen zu werden, egal worum es ging.
Schließlich: Kontakt zur Schwester gesucht
Ich hatte einen letzten Trumpf im Ärmel, einen allerletzten: meine Schwester. Ich musste mir eingestehen, dass ich nach wie vor Angst hatte: vor ihrer Irrationalität, ihrem Wahnsinn. Andererseits, sie war nicht geistesgestört, keine Aphasie, sie war trotz allem manchmal erreichbar. Sie hatte sich bei meinen Eltern angekündigt, sie kam alle paar Jahre in die Stadt im Westen Deutschlands, und auch hier war sie schon in der Psychiatrie. Es fiel mir nicht leicht, aber ich nahm Kontakt zu ihr auf und fuhr hin.
Die Begegnung war nicht so bedrückend, wie ich es mir zuvor ausgemalt hatte, ich war sortiert, und auch meine Schwester machte einen erstaunlich ruhigen Eindruck auf mich, ihr hysterisches Wesen schimmerte nicht durch. Ich wusste nicht, ob sie unter dem Einfluss von Medikamenten stand. Wir gingen in den nahe gelegenen Park, die Enten quakten höhnisch, die Wildgänse kreischten. Als wir uns auf der Höhe eines Weihers befanden, fragte ich sie frei heraus: „Bist du als junges Mädchen vergewaltigt worden?“
Sie war es nicht. Ich glaubte ihr.
Bin ich heute meinem Arzt aus der Klinik böse? Er hat das Haus verlassen, er ist jetzt in einer anderen Klinik, sein Schwerpunkt ist nicht mehr Traumatherapie und EMDR. Bin ich meinem Arzt heute böse? Ich habe für mich darauf noch keine Antwort gefunden.
17 Jahre mit falscher Erinnerung gelebt
Laut einer Untersuchung über false memories vergingen im Durchschnitt vom Auftreten der Bilder bis zu dem Punkt, an dem man sagt: Nein, es kann nicht gewesen sein, fünf Jahre. Bei mir sind es 17 Jahre, ein Prozess, mit der Einsicht an dessen Ende: Es ist wohl nicht geschehen. 17 Jahre meines Lebens glaubte ich an eine Schimäre, oder hielt sie zumindest für möglich.
Und jetzt? Die Symptome sind weniger geworden, haben sich abgeschwächt, im Laufe der Jahre, aber sie sind noch nicht ganz weg: das Schwirren im Kopf, vor allem, Depression und Angst in allen Facetten, die „Herzneurose“, Nähe strengt mich an. Ich fühle mich manchmal noch von vergewaltigten Frauen angezogen, zunächst unwissend, nicht nur von der Frau in der Klinik, doch die Intensität der Anziehung nimmt ab.
Ich muss meine Lebensgeschichte wie auf einem Palimpsest neu überschreiben.
Heute frage ich mich: Bin ich durch die realen Schreie meiner bipolaren Schwester traumatisiert worden, denen ich als Kind und als Jugendlicher jahrelang ausgesetzt war? Spielt es eine Rolle, dass meine Eltern mich als Baby nachts allein im Zimmer schreien ließen, wie mir meine Mutter schuldbewusst vor ein paar Jahren sagte, weil sie nicht an Angst dachten, sondern daran, dass sich die Lungenflügel gesundheitsfördernd dehnten, stundenlang? Jahrelang hatte ich beides als unbedeutend abgetan. Ich sehe das heute im Zuge der EMDR-Therapie in einem anderen Licht. Aber warum dann diese Bilder, die in der Klinik hochgekommen waren?
Die Bilder, die mich aufgeschreckt hatten, bleiben mir ein Rätsel.
Es deutet sich etwas anderes an. Ich werde mir Zeit nehmen, dem auf den Grund zu gehen.
Anmerkung der Redaktion: Um den Autoren zu schützen, wurden einige Details im Text verfremdet, darunter auch sein Name.
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