Sie schreiben, dass Psychotherapiepatientinnen und -patienten oft Schwierigkeiten mit dem Körper haben, und empfehlen, dies bei der Diagnose besser zu berücksichtigen. Worum geht es dabei?
Körpererfahrung und Körperinteraktion sind zunächst einmal eine Grundvoraussetzung für unsere Entwicklung – all das, was unser Körper mitbringt, was wir im Moment in unserem Körper erfahren und was wir durch unseren Körper über die Welt lernen; wie unser Körper sich selbst verändert, mit der Welt interagiert. Dabei ergeben sich unweigerlich auch Schwierigkeiten. Ich kann mich frisch und lebendig oder erschöpft fühlen; ich kann Schmerzen tolerieren oder unerträglich finden; ich kann mich als mobil und handlungsfähig oder aber gelähmt erleben.
Woran genau erkennen Sie als Psychotherapeutin die Probleme der Patientinnen?
In erster Linie daran, wie die Menschen ihren Körper erleben, was sie über sich erzählen. Zum Beispiel ob und wie jemand Schwindel beklagt, in welchen Situationen er auftritt, wie gut jemand einschlafen oder sich nach Aufregungen wieder beruhigen kann, wie jemand Nähe empfindet. Dazu kommt die Körpersprache, also wie jemand im Moment spricht oder sich bewegt. Wichtig sind auch Gestik, Mimik, Blickkontakt, Atmung oder Muskelspannung.
Das Leben hinterlässt zudem Spuren am Körper, also achten wir auch darauf, wie er aussieht: etwa ausgemergelt oder mit zahlreichen Narben. Psychotherapeuten nutzen auch ihr eigenes körperliches Erleben als diagnostische Quelle, also wie wir in der Gesprächssituation reagieren. Dabei fragen wir uns aufmerksam: Was hat mein Erleben mit meinem Gegenüber zu tun – oder aber mit meiner eigenen Geschichte?
Was bedeuten körperliche Schwierigkeiten?
Die Frage nach der Bedeutung ist die wichtigste und die schwierigste zugleich! Entscheidend ist, dass sich Psychotherapeutinnen nicht die Deutungshoheit über die Beschwerden, die Körpersprache oder die Erklärungen der Betroffenen herausnehmen. Wir können dabei helfen, solche Signale zu verstehen, und anregen, auch mal andere Bedeutungszuschreibungen oder Verhaltensweisen auszuprobieren. Gemeinsam kann man oft erkennen, ob körperliche Symptome für Entlastung sorgen, Warnsignale darstellen, Schutz- oder Fluchtreflexe oder eine Botschaft an das Umfeld sind.
Kann auch eine schwere körperliche Erkrankung oder Verletzung psychische Probleme verursachen?
Ja. Die Erfahrung einer sichtbaren Behinderung, einer plötzlichen Hilfsbedürftigkeit, von Schmerzen oder einem Terminkalender, in dem auf einmal dauernd das Wort „Chemotherapie“ steht, kann zu Angst, Depressionen, zu stressbedingten Körperbeschwerden oder sogar Suizidgedanken führen. Nach existenziellen Ereignissen, und dazu gehören schwere Unfälle oder Reanimationen, kann es zu Traumafolgestörungen kommen.
Oft lässt sich nicht eindeutig trennen, was an einer Krankheit „körperlich“ oder „psychisch“ ist – denken Sie an Depressionen, die durch körperliche Beschwerden wie Schlaf-, Appetit- oder Libidostörungen charakterisiert sind. Andersherum: Auch ein Beinbruch, der uns plötzlich vom Leistungssportler zum Kranken macht, hat eine Menge psychosoziale Aspekte.
Constanze Hausteiner-Wiehle ist Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie sowie für psychosomatische Medizin. Sie ist Wissenschaftlerin an der Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der TU München und Oberärztin an der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik Murnau.
Constanze Hausteiner-Wiehle, Peter Henningsen: Körpererfahrung und Körperinteraktion in der psychotherapeutischen Anamnese- und Befunderhebung. Psychotherapie – Psychosomatik – Medizinische Psychologie, 2022. DOI: 10.1055/a-1641-0400