Radikale Akzeptanz

Was kommt nach der Demenzdiagnose auf das Umfeld zu? Zwei Bücher zeigen, wie Nahestehende respektvoll und wertschätzend mit Betroffenen umgehen können.

Können wir die Demenz als etwas anderes denn als kognitiven Abbau und Verlust verstehen? Wir könnten sie als eine Lebensphase begreifen, in der ein Mensch seiner Vergangenheit begegnet, wobei scheinbar Vergessenes oder gar Verdrängtes zum Vorschein kommt. „Verschüttetes wird wiederentdeckt, Gefühle wollen gefühlt werden, Erfahrungen und Geschichten wollen Spuren hinterlassen“, schreibt Hildegard Nachum in ihrem Buch Die Weisheit der Demenz.

Die Politik- und Kommunikationswissenschaftlerin ist Validationslehrerin und seit vielen Jahren eine gefragte Referentin in der Ausbildung von geriatrischen Pflegekräften. Nun hat sie ein ermutigendes Werk verfasst, dessen Lektüre ebenso Angehörigen wie Fachpersonal ans Herz gelegt werden kann.

Derzeit leben in Deutschland über 1,7 Millionen Menschen mit Demenz. 2050 werden es 2,8 Millionen sein. Das Gros von uns assoziiert Demenz mit einer schleichenden Zerstörung der eigenen Persönlichkeit. Dem setzt die Autorin eine herausfordernde und gleichzeitig bemerkenswert sinnstiftende Interpretation entgegen: Sie begegnet der Demenz als einem Lebensabschnitt, in dem es „primär darum geht, alte Lebensaufgaben, die unerledigt, ungesehen und ungelebt geblieben sind, in irgendeiner Form zu erfüllen“. Etwa die Bedürfnisse nach Sicherheit und Geborgenheit, die in der Kindheit vernachlässigt wurden.

Gefühle von Betroffenen anerkennen

Aus diesem Verständnis heraus bedient sich Nachum in ihrer alltäglichen Arbeit mit dementen Menschen der Methode der Validation: „Validation basiert auf dem Grundsatz, die Gefühle des anderen anzuerkennen und Vertrauen aufzubauen“, schreibt die Autorin. „Das bedeutet, den alten Menschen nicht anzulügen und nicht abzulenken, sondern ihn in seiner inneren Erlebniswelt zu besuchen, ohne den Anspruch zu erheben, ihn in meine eigene kognitive Außenwelt zu bringen, denn das funktioniert nicht.“ Nachums Buch bietet zahlreiche Tipps sowie Beispiele für einen auf Validation beruhenden Umgang mit dementen Menschen.

Immer wieder erwähnt Nachum die Gerontologin Naomi Feil, die die Validation entwickelt hat. Auch die Beobachtungen des Psychologen Tom Kitwood und des Pädagogen Udo Baer sowie der Autorin Sabine Bode, die über die Traumata der Kriegsgeneration geschrieben hat, tauchen in ihrem Buch auf. Doch sie fasst die Überlegungen dieser Expertinnen und Experten nicht einfach zusammen. Vielmehr verknüpft sie das Wissen dieser Fachleute mit ihren eigenen Erfahrungen aus der jahrelangen Arbeit mit dementen Menschen.

So liest sich ihr Buch wie eine bemerkenswert humanistisch geprägte Interpretation der Demenz: „Der alte Mensch hat oft schon einige Sozialisationsschalen abgelegt. Etikette und gesellschaftlich aufgezwungene Verhaltensregeln lösen sich auf, gesellschaftlich geprägte Normen beginnen zu verblassen. Die gesellschaftlichen Hüllen fallen immer mehr, bis der nackte Mensch in seiner Weisheit übrigbleibt.“

Praktische Hinweise treffen auf Wertschätzung

Diese womöglich radikale Form der Akzeptanz des dementen Menschen und seines Verhaltens liest sich nicht nur schön: Nachum macht darauf aufmerksam, dass Validation den Alltag der Betroffenen und ihrer Umwelt verbessern und bereichern kann. Demente Menschen werden in ihrem Selbstwertgefühl gestärkt, ihr Stress reduziert sich und sie können häufig länger in ihrer vertrauten Umgebung bleiben. Auch Sedierung und körperliche Fixierung können reduziert werden.

Darüber hinaus können sich Betroffene mit früheren Konflikten auseinandersetzen und unverarbeitete, belastende Erfahrungen ihres Lebens auf sichere Weise konfrontieren. In drei Kapiteln gelingt der Autorin das Kunststück, ihrer Leserschaft praktische Hinweise für den Alltag und gleichzeitig eine neue, wertschätzende Wahrnehmung des dementen Menschen mitzugeben.

Man könnte meinen, Nachum hätte sich mit der Psychologin Ina Riechert abgesprochen – so gelungen ergänzen sich die Bücher der zwei Autorinnen. Denn Riecherts Buch Was kommt bei Demenz auf uns zu? ist praktisch ausgerichtet, informiert beispielsweise über Antrags- und Begutachtungsverfahren für Pflegeleistungen und legt Mahlzeiten nahe, die den körperlichen Bedürfnissen von dementen Menschen entgegenkommen.

„Würde und Autonomie bis zum Tod“

Riechert geht mit ihrer Leserschaft den Alltag eines dementen Menschen durch und leistet Angehörigen beachtliche Hilfestellung. Sie diskutiert unter anderem auch die Vereinbarkeit von Beruf mit der Pflege des dementen Familienmitglieds und bietet konkrete Empfehlungen, wie am besten vorzugehen ist, wenn eine Demenz diagnostiziert wurde. „Im Umgang mit Menschen mit Demenz gilt für mich, zwei ganz wichtige Begriffe mit Inhalt zu füllen: Würde und Autonomie bis zum Tod“, schreibt Riechert.

Sie tut dies auf eine interessant andersartige Weise als Nachum: indem sie all die Alltagssituationen, Bedingungen und Eventualitäten bedenkt, die Betroffene und ihre Angehörigen erleben können – und ihre Leserschaft mit dem nötigen Wissen ausrüstet, um nicht überfordert und hilflos dazustehen. So ergänzen Riecherts und Nachums Bücher sich auf wertvolle Weise und erinnern einmal mehr daran, dem dementen Menschen mit einem offenen Herzen und anhaltender Aufmerksamkeit zu begegnen.

Hildegard Nachum, mit Unterstutzung von Ulrike Zika: Die Weisheit der Demenz. Wegweiser zum würdevollen Umgang mit desorientierten Menschen. Kneipp, Wien 2022, 224 S., € 25,–

Ina Riechert: Was kommt bei Demenz auf uns zu? Ein Ratgeber für Angehörige und Betreuende. Springer, Berlin 2022, 186 S., € 17,99

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