Morgens steigen Sie in Ihr Auto oder in die Bahn. Darin sitzend fahren Sie zur Arbeit, wo Sie an Ihrem Schreibtisch für längere Zeit Platz nehmen. Zum Mittagessen gehen Sie in die Kantine, wo Sie sich natürlich zum Essen hinsetzen – nur um nach dem Essen die folgenden Stunden wieder sitzend vor dem Computer zu verbringen. Am Abend erledigen Sie dies und das und fallen dann erschöpft auf Ihre Couch und machen es sich bequem. Meist vor dem Fernsehgerät.
So oder so ähnlich verlaufen für viele Menschen die Tage – mit dem Ergebnis, dass sich die sitzende Zeit Tag für Tag auf viele Stunden summiert. Im Durchschnitt sind es um die sieben, ergab beispielsweise die Bewegungsstudie 2016 der Techniker-Krankenkasse mit mehr als 1000 Befragten. Von diesen gab sogar die Hälfte an, gar keinen Sport zu betreiben und sich kaum zu bewegen. Vertreter akademischer Berufe sind hier besonders gefährdet. Grundsätzlich hat der Anteil der Beschäftigte mit einem Bürojob in den letzten 50 Jahren enorm zugenommen – von ungefähr 10 Prozent auf 50 Prozent, wie die Psychologin Vivien Suchert mit Hinweis auf die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin schreibt.
Sitzen wir uns selbst im Weg? Einiges spricht dafür. Denn je länger wir sitzen, desto weniger bewegen wir uns. Und je weniger wir uns bewegen, desto schwerer fällt es, den Sitzplatz zu verlassen. Dass das ungesund ist, wissen wir. Was wir vielleicht nicht wissen: Bewegung zweimal pro Woche (zum Beispiel joggen) kann diesen Schaden nicht ausgleichen. Denn ausdauerndes Sitzen, das zeigen neuere Untersuchungen, schadet unserer Gesundheit sogar dann, wenn wir Sport treiben, berichtet Vivien Suchert in ihrem Buch Sitzen ist fürn Arsch. Demnach ist sehr langes Sitzen ein „vom Sport teilweise unabhängiger Risikofaktor und eben nicht nur die Kehrseite der Medaille“, wie es lange von Wissenschaftlern angenommen wurde.
Dabei verpassen wir viel – vor allem die wohltuenden Effekte, die Bewegung auf unser Denken und auf die Psyche hat. Bewegung schützt unser Gehirn, stärkt unser Arbeitsgedächtnis, die Konzentration, die räumliche Orientierung und hilft, bei alltäglichen Aufgaben Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden. Wir fühlen uns darüber hinaus insgesamt wohler und tun auch etwas für unser Selbstbewusstsein, zeigen Forschungsergebnisse.
Bewegung hilft dem Denken
Sport macht schlau, lautet der Titel eines Buches von Frieder Beck. Der Sportwissenschaftler argumentiert: Jede Bewegung, die wir im Sport lernen, ist auch eine geistige Leistung. Bei jeder Bewegung kommt eine „exekutive Funktion“ zum Einsatz. Exekutive Funktionen sind wichtige Basisfunktionen unseres Gehirns, die wir brauchen, um im Alltag zu bestehen. Sie unterstützen uns dabei, uns sicher zu bewegen und zu orientieren, die Anforderungen um uns herum zu verstehen und angemessen zu reagieren, zu planen, zu organisieren und zu entscheiden, auch in komplexen oder belastenden Situationen. Exekutive Funktionen sind sozusagen der Unterbau unseres Denkens. Sie seien für Erfolge sogar oft wichtiger als Intelligenz, schreibt Beck.
Gut erforscht sind die drei exekutiven Funktionen updating, inhibition und shifting, berichtet die Psychologin Petra Jansen, Autorin des Buchs Macht Bewegung wirklich schlau? und Professorin für Sportwissenschaft an der Universität Regensburg. Updating meint die Zwischenspeicherung von Information im Arbeitsgedächtnis. Dieses enthält verschiedene Speicher, etwa für sprachliche und visuell-räumliche Information, und zudem eine Art „Instanz“, die entscheidet, welche Speicher wir gerade brauchen. Bei komplexen Aufgaben kommen alle Speicher zum Zuge. Darüber hinaus ist zweitens die Fähigkeit der „Inhibition“ für alle Arten von Denkaufgaben wichtig: Sie versetzt uns in die Lage, diejenigen äußeren und inneren Reize auszublenden, die für eine aktuelle Aufgabe gerade nicht wichtig sind, und umgekehrt auf die jeweils richtigen Reize zu reagieren. Auch das Shifting, die dritte Funktion, zu beherrschen, ist vorteilhaft, denn es geht dabei um die Fähigkeit, zwischen zwei Aufgaben geistig hin- und herzuwechseln, etwa sich rasch auf die unterschiedlichen Sichtweisen von Kommunikationspartnern einstellen zu können – kurz gesagt: um kognitive Flexibilität.
Bewegung trainiert diese exekutiven Funktionen, zeigt eine von Petra Jansen zitierte Studie. Danach verarbeiteten sportlich erfahrene Probanden Informationen schneller oder schnitten bei Aufmerksamkeitsleistungen besser ab. Forscher verglichen unter anderem das Verhalten von Sportlern und Nichtsportlern im Straßenverkehr, indem sie die Probanden vor einer Leinwand auf ein Laufband stellten. Eine virtuelle Straßenumgebung war auf die Leinwand projiziert. Tatsächlich verhielten sich die Sportler geschickter, es kam bei ihnen seltener zu virtuellen „Kollisionen“, und sie waren bei den anschließenden kognitiven Tests ebenfalls schneller als die Nichtsportler.
In einer weiteren Studie bestätigten Forscher aus den USA, dass Sportler bei bestimmten exekutiven Fähigkeiten besser waren als Nichtsportler, etwa bei Inhibition, Problemlösen, Entscheiden und anderen. Welche Fähigkeiten das im Einzelnen waren, hing von der jeweiligen Sportart ab. Denn Sportler können ihre eigenen sportlichen Aktionen in manchen Sportarten stärker steuern. In anderen Sportarten muss schnell und permanent auf äußere Veränderungen reagiert werden, und das Verhalten der Mitspieler spielt eine wichtige Rolle, etwa beim Fußball oder Tennis. Und genau das, was wir bei diesen sportlichen Aktionen tun, trainieren wir.
Es muss nicht unbedingt Sport sein
Dass schon moderate körperliche Aktivität etwas Positives bewirkt, zeigt eine Studie der University of Connecticut. Die Forscher erhoben sowohl die Auswirkungen leichter als auch moderater wie intensiver körperlicher Aktivität, etwa einmal in der Mittagspause um den Block zu gehen, 20 Minuten zügig zu marschieren oder 13 Minuten lang zu joggen. Die 419 Teilnehmer, alles Erwachsene mittleren Alters, trugen vier Tage lang einen Beschleunigungsmesser, mit dem die körperliche Aktivität gemessen wurde. Ergebnis: Das Wohlbefinden verbesserte sich bei den Teilnehmern mit täglich langer Sitzdauer schon nach der leichten Aktivität, also der Runde um den Block, ebenso nach der moderaten Aktivität. Intensives Training dagegen wirkte sich bei diesen Teilnehmern weder gut noch schlecht aus. Die Forscher schlussfolgern, dass jede kleine Alltagsaktivität geeignet ist, das Wohlbefinden zu verbessern: „Um Menschen zu ermutigen, sich mehr zu bewegen, ist es sehr wichtig herauszufinden, welche Art, Dosierung und Intensität der Bewegung gut fürs Wohlbefinden ist.“
Fest steht: Man muss sich nicht verausgaben, um gute Wirkungen zu erzielen. Und körperliche Aktivität, die immer mal wieder in den Alltag eingestreut wird, kann schon sehr viel bringen, zeigt eine weitere Studie. Probanden, die sich den ganzen Arbeitstag über in Abständen von einer Stunde fünf Minuten lang auf einem Laufband bewegten, waren abends deutlich weniger erschöpft und konnten ihre kognitive Leistungsfähigkeit den ganzen Arbeitstag über aufrechterhalten. Zudem waren die Teilnehmer dieser Studie am Abend auch besser gelaunt.
Stress lässt nach
Was gerade das Laufen so attraktiv macht, ist der Abbau des Stresshormons Kortisol, der einhergeht mit einem Anstieg der Ausschüttung von Dopamin, was wiederum dazu führt, dass sich unsere Aufmerksamkeit und kognitive Flexibilität hochregulieren. Beides, Aufmerksamkeit und kognitive Flexibilität, wird beim Laufen eher wenig beansprucht, da sich in der Umgebung in der Regel meist wenig abspielt. Und so „fängt der Geist an, sich mit sich selbst zu beschäftigen“, berichtet Frieder Beck. Wir werden wieder kreativer, können neue Lösungen für alte Probleme finden und verschiedene Perspektiven durchspielen. Wie Beck betont, funktioniert das am besten, wenn man beim Laufen etwas Übung hat.
Wenn Sport und Bewegung Stress abbauen und unseren Geist so gut trainieren, dann stellt sich die Frage, ob das auch bis ins hohe Alter möglich ist. In den vergangenen Jahren haben Forschungsergebnisse genau solche Hoffnungen geweckt: Mit Bewegung und Sport lasse sich nicht nur generell die kognitive Leistungsfähigkeit bis ins hohe Alter erhalten, sondern sogar Erkrankungen wie Demenz oder Depressionen vorbeugen. Die Frage nach der positiven Wirkung des Sports auf die kognitive Leistungsfähigkeit im Alter beantwortet Petra Jansen nach der Sichtung der Forschung jedoch nur mit einem zögerlichen „Ja“– die Ergebnisse aus Metastudien zu dieser Frage seien widersprüchlich. Generell wirke sich sportliches oder motorisches Training immerhin laut einem Teil der Studien im Alter vorteilhaft auf kognitive Funktionen aus, so Jansen.
Nach einer Studie mit 900 älteren Menschen, die der amerikanische Psychologenverband APA zitiert, ist es möglich, durch mäßiges bis intensives regelmäßiges Training das Nachlassen von kognitiven Fähigkeiten zu verlangsamen, wie Verarbeitungsgeschwindigkeit oder episodisches Erinnern. Die Autoren der Studie ziehen daraus den Schluss, dass regelmäßige Bewegung helfen könne, das gesunde Gehirn zu schützen. Darüber hinaus erwies sich in einer weiteren kanadischen Studie eine Kombination aus einem kognitiven und Bewegungstraining bei Teilnehmern als wirksam, die älter als 60 Jahre waren. Bei ihnen verbesserten sich die Verarbeitungsgeschwindigkeit sowie die Fähigkeit, bei Aufgaben unnötige Reize auszublenden, und sie waren in gleichem Maße, wie die kognitiven Fähigkeiten gestiegen waren, auch beweglicher und mobiler.
Bewegung verbessert das Selbstbild
Ob jung oder alt – wie wir unsere eigene Fitness einschätzen, wie beweglich wir uns fühlen, wie kräftig und stabil, zeigt sich in unserem Körperbild oder auch Körperkonzept, berichtet der Sportpsychologe Jens Kleinert, Professor an der Deutschen Sporthochschule Köln. Vereinfacht gesagt, spiegelt es unsere eigenen Bewegungserfahrungen. Die Sportpsychologie nimmt an, dass ein gutes Körperbild auch heißt, dass wir unseren eigenen Fähigkeiten vertrauen können. Und das heißt umgekehrt: Bewegen wir uns zu wenig, so kennen wir einen Teil unserer Fähigkeiten gar nicht – nicht günstig für unsere Selbsteinschätzung. Es ist, als ob wir unsere eigenen Potenziale brachliegen lassen.
In einer Studie untersuchte Kleinert das Körperkonzept von Herzpatienten. Zusammen mit einer Münsteraner Kollegin ging er von der Annahme aus, dass eine Erfahrung wie eine Herzerkrankung sowohl Körper- als auch Selbstbild vorübergehend beeinträchtigen kann, weil Patienten sich dadurch schwächer, ohnmächtig und verwundbarer fühlen. Hätten Patienten zuvor ein gutes Körperkonzept, könnte dies wiederum den Heilungsverlauf positiv beeinflussen. In der Studie besserte sich bei Patienten mit einem anfänglich negativen Körperkonzept nach dem dreiwöchigen Bewegungstraining die körperliche Befindlichkeit, und ihr Körperkonzept wurde stabiler. Dagegen fühlten sich Teilnehmer mit anfangs gutem Körperkonzept nur geringfügig besser – vermutlich weil das Training ihnen nicht genug Anreize bot und für sie zu einfach war. Daraus folgern die Sportpsychologen, dass sich das grundlegende Körperkonzept (und damit indirekt auch das allgemeine Selbstkonzept) schon nach relativ kurzer Zeit durch Bewegung verbessern kann. Und wer schon ein gutes Körperbild hat, braucht höhere Anforderungen, damit er von Bewegung und Sport profitiert.
„Wer sich bewegt oder Sport treibt, macht viele Erfahrungen mit sich selbst, lernt sich selbst besser kennen und kann dies dazu nutzen, das eigene Selbstbild anzupassen“, erläutert Kleinert und ergänzt: „Das heißt auch, zu einem realistischen Selbstbild zu kommen. Sport hilft, eine andere Einstellung zu sich selbst zu entwickeln: Denn ich setze mich damit auseinander, was ich mir selbst zutraue.“
Kaffee holen, Treppensteigen oder Sport
Wie kommt mehr Bewegung in den Alltag? Es beginnt wie so vieles im Kopf: mit Umdenken und der Veränderung kleiner Routinen im Alltag, das ist die These von Vivien Suchert. Aufs Sitzen ganz zu verzichten ist schlicht unmöglich. Die Psychologin plädiert stattdessen für einen aktiven Alltag: „Alltagsbewegungen sind ein wichtiger Schlüssel für ein gesundes Leben.“ Was also geht, so meint die Psychologin, ist das Sitzen zu verändern: oft die Haltung wechseln, manchmal dehnen und strecken, im Sitzen auf die Zehenspitzen stellen, Füße kreisen lassen. Was auch möglich ist: So oft wie möglich aufstehen, zum Drucker gehen, jede sich bietende Treppe steigen oder jede Tasse Tee einzeln holen. Zu den Kollegen ins andere Büro gehen, um mit ihnen etwas zu besprechen. „Jeder, der sich aufmacht, mehr Bewegung in die Arbeitswelt zu integrieren, hilft, einen Sinneswandel anzustoßen“, schreibt dazu der Sportwissenschaftler Frieder Beck.
Zu Hause gibt es ebenfalls probate und einfache Mittel, sich mehr zu bewegen – auf der Gymnastikmatte, dem Hometrainer oder ganz altmodisch: Auch Staubsaugen, Fenster putzen, Böden wischen oder Essen zubereiten sind körperliche Aktivitäten – und einige davon brauchen sogar so viel Energie wie Laufen oder Walken. Und natürlich gehört dazu auch, zu Fuß zu gehen und Fahrrad zu fahren, wann immer möglich.
Und Sport? Ob Anfänger oder Wiedereinsteiger: Erst einmal kann es passieren, dass er oder sie schnell auf dem Boden der Tatsachen landet: Die Leistungsansprüche sind zu hoch, Frustration kommt auf. „Die erste Zeit ist die schwierigste“, beruhigt der Sportwissenschaftler Frieder Beck. Eine Zeitlang heißt es also tatsächlich: auf die Zähne beißen. Doch wir sollten den positiven Wirkungen des Sports vertrauen, ermutigt der Sportwissenschaftler: Im Lauf der Zeit stellen diese sich bei jedem ein. Und das wiederum unterstützt uns dabei, den Sport als „ständigen Partner“ zu behalten, der uns (fast) jederzeit zur Verfügung steht.
Dieser Text erschien zuerst in Psychologie Heute 10/2017. Er wurde gekürzt und leicht überarbeitet.