„Ich ist ein anderer“– so lautet Arthur Rimbauds berühmter Ausspruch. „Ich sind ganz viele“– so ließe sich das Phänomen der dissoziativen Identitätsstörung in etwa zusammenfassen. Dabei braucht es gar keine Störung, um in seiner Persönlichkeit vieles zu vereinen: Wir alle sind viele, jedenfalls wenn man vergleicht, wie unterschiedlich wir in Familie, Beruf und Öffentlichkeit agieren. Und es ist ja durchaus beruhigend, wenn die Attitüde betrunkener Ballermann-Besucherinnen und -Besucher nicht charakteristisch für ihr ganzes Leben ist.
Dementsprechend ist es gerade die situationsbedingte Variation im Verhalten und Erleben, die nach Walter Mischels kognitiv-affektiver Theorie unsere Persönlichkeit ausmacht: „Die Persönlichkeit des Individuums manifestiert sich daher als ein unterscheidbares und stabiles Muster von Verhaltensvariation, das zustande kommt, indem die Person aus einer Situation in eine andere gelangt.“
Kein einheitliches Ich
Seit 120 Jahren wird aber die Existenz eines eigenständigen psychopathologischen Phänomens behauptet, das ein Nebeneinander von mehreren solchen Mustern innerhalb derselben Person nahelegt. Zunächst als „multiple Persönlichkeitsstörung“ bezeichnet, ist jetzt die Rede von „dissoziativer Identitätsstörung“ oder (weniger stigmatisierend) „-struktur“. Diese begriffliche Änderung ist folgerichtig, denn die Betroffenen erleben ihre Identität als instabil und fragmentiert; in gewisser Weise haben sie also nicht mehr als eine Persönlichkeit, sondern weniger – nämlich kein kohärentes Erleben eines einheitlichen Ichs über verschiedene Situationen und Zustände hinweg.
Sowohl im Klassifikationssystem DSM-5-TR als auch in der ICD-11 ist de facto nur die Rede von „zwei oder mehr verschiedenen Persönlichkeitszuständen“ bei den Betroffenen, nicht von verschiedenen Persönlichkeiten. Dass sich die Erfahrung dieser Zustände und der Wechsel dazwischen für viele Betroffene real anfühlt, wird man ihnen nicht absprechen können. Das heißt aber nicht, dass sie real sein müssen, und es schließt nicht aus, dass sie therapeutisch mitbedingt sind.
In der ICD-10 war die (analoge) multiple Persönlichkeitsstörung nur unter die sonstigen dissoziativen Störungen subsumiert. In der ICD-11 ist ihr nicht nur eine eigene Rubrik gewidmet; durch die Einführung der sogenannten „partiellen dissoziativen Identitätsstörung“ ist der mögliche Anwendungsbereich sogar noch erweitert worden.Was die Entstehung der dissoziativen Identitätsstörung betrifft, stehen sich zwei Positionen gegenüber: dass sie traumatisch bedingt (und echt) ist oder dass sie durch Rollenerwartungen in der Therapie produziert (und somit artifiziell) ist. Auch aufgrund dieser Ungewissheit gilt es, besonders sorgfältig bei der diagnostischen Einordnung solcher dissoziativen Phänomene vorzugehen.
Dass unbewiesene Behauptungen ritueller sexueller Gewalt mit abstrusen Vorstellungen von mind control und zielgerichteter Persönlichkeitsspaltung einhergehen, verdeutlicht die Risiken von Diagnostik und Therapie, die zu sehr auf Symptomen und Eindrücken beruhen.
Andreas Mokros ist Professor für Persönlichkeits-, Rechtspsychologie und Diagnostik an der FernUniversität in Hagen und Dekan der dortigen Fakultät für Psychologie.
Hat Ihnen dieser Artikel gefallen? Wir freuen uns über Ihr Feedback!
Haben Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Beitrag oder möchten Sie uns eine allgemeine Rückmeldung zu unserem Magazin geben? Dann schreiben Sie uns gerne eine Mail (an: redaktion@psychologie-heute.de).
Wir lesen jede Nachricht, bitten aber um Verständnis, dass wir nicht alle Zuschriften beantworten können.
Quellen
Binet, E. (2024). Claims of dissociative identity disorder on the internet: A new epidemic of Munchausen Syndrome? European Journal of Trauma & Dissociation, 8(4), 100470. https://doi.org/10.1016/j.ejtd.2024.100470
Fabrazzo, M. (2022). Internet-based field trials of the ICD-11 chapter on mental disorders. World Psychiatry, 21, 163-164. https://doi.org/10.1002/wps.20954
Haslam, N. (2016). Concept creep: Psychology’s expanding concepts of harm and pathology. Psychological Inquiry, 27(1), 1–17. https://doi.org/10.1080/1047840X.2016.1082418
Lynn, S. J., Polizzi, C., Merckelbach, H., Chio, C.-D., Maxwell, R., van Heugten, D., & Lilienfeld, S. O. (2022). Dissociation and dissociative disorders reconsidered: Beyond sociocognitive and trauma models toward a transtheoretical framework. Annual Review of Clinical Psychology, 18, 259-289. https://doi.org/10.1146/annurev-clinpsy-081219-102424
Mokros, A., Schemmel, J., Körner, A., Oeberst, A., Imhoff, R., Suchotzki, K., Oberlader, V., Banse, R., Kannegießer, A., Gubi-Kelm, S., Lehmann, R. & Volbert, R. (2024). Rituelle sexuelle Gewalt: Eine kritische Auseinandersetzung mit fragwürdigen empirischen Belegen für ein fragliches Phänomen. Psychologische Rundschau, 75(3), 216-228. https://doi.org/10.1026/0033-3042/a000663
Ross, C. A. (1989). Multiple personality disorder: Diagnosis, clinical features, and treatment. Wiley.
Shoda, Y. & Mischel, W. (2000). Reconciling contextualism with the core assumptions of personality psychology. European Journal of Personality, 14(5), 407 -428. https://doi.org/10.1002/1099-0984(200009/10)14:5<407::AID-PER391>3.0.CO;2-3