„Es gibt eine Inflation der Identitäten.“

Menschen mit dissoziativer Identitätsstörung haben kein Mehr an Persönlichkeiten. Die Diagnose wird unsorgfältig verwendet; das stört Andreas Mokros.

Die Illustration zeigt den Professor für Persönlichkeits-, Rechtspsychologie und Diagnostik an der FernUni Hagen,  Andreas Mokro, der meint, es gibt eine Inflation der Identitäten
Andreas Mokros ist Professor für Persönlichkeits-, Rechtspsychologie und Diagnostik an der FernUniversität in Hagen. © Jan Rieckhoff für Psychologie Heute

„Ich ist ein anderer“– so lautet Arthur Rimbauds berühmter Ausspruch. „Ich sind ganz viele“– so ließe sich das Phänomen der dissoziativen Identitätsstörung in etwa zusammenfassen. Dabei braucht es gar keine Störung, um in seiner Persönlichkeit vieles zu vereinen: Wir alle sind viele, jedenfalls wenn man vergleicht, wie unterschiedlich wir in Familie, Beruf und Öffentlichkeit agieren. Und es ist ja durchaus beruhigend, wenn die Attitüde betrunkener Ballermann-Besucherinnen und -Besucher nicht charakteristisch für ihr ganzes Leben ist.

Dementsprechend ist es gerade die situationsbedingte Variation im Verhalten und Erleben, die nach Walter Mischels kognitiv-affektiver Theorie unsere Persönlichkeit ausmacht: „Die Persönlichkeit des Individuums manifestiert sich daher als ein unterscheidbares und stabiles Muster von Verhaltensvariation, das zustande kommt, indem die Person aus einer Situation in eine andere gelangt.“

Kein einheitliches Ich

Seit 120 Jahren wird aber die Existenz eines eigenständigen psychopathologischen Phänomens behauptet, das ein Nebeneinander von mehreren solchen Mustern innerhalb derselben Person nahelegt. Zunächst als „multiple Persönlichkeitsstörung“ bezeichnet, ist jetzt die Rede von dissoziativer Identitätsstörung“ oder (weniger stigmatisierend) „-struktur“. Diese begriffliche Änderung ist folgerichtig, denn die Betroffenen erleben ihre Identität als instabil und fragmentiert; in gewisser Weise haben sie also nicht mehr als eine Persönlichkeit, sondern weniger – nämlich kein kohärentes Erleben eines einheitlichen Ichs über verschiedene Situationen und Zustände hinweg.

Sowohl im Klassifikationssystem DSM-5-TR als auch in der ICD-11 ist de facto nur die Rede von „zwei oder mehr verschiedenen Persönlichkeitszuständen“ bei den Betroffenen, nicht von verschiedenen Persönlichkeiten. Dass sich die Erfahrung dieser Zustände und der Wechsel dazwischen für viele Betroffene real anfühlt, wird man ihnen nicht absprechen können. Das heißt aber nicht, dass sie real sein müssen, und es schließt nicht aus, dass sie therapeutisch mitbedingt sind.

In der ICD-10 war die (analoge) multiple Persönlichkeitsstörung nur unter die sonstigen dissoziativen Störungen subsumiert. In der ICD-11 ist ihr nicht nur eine eigene Rubrik gewidmet; durch die Einführung der sogenannten „partiellen dissoziativen Identitätsstörung“ ist der mögliche Anwendungsbereich sogar noch erweitert worden.Was die Entstehung der dissoziativen Identitätsstörung betrifft, stehen sich zwei Positionen gegenüber: dass sie traumatisch bedingt (und echt) ist oder dass sie durch Rollenerwartungen in der Therapie produziert (und somit artifiziell) ist. Auch aufgrund dieser Ungewissheit gilt es, besonders sorgfältig bei der diagnostischen Einordnung solcher dissoziativen Phänomene vorzugehen.

Dass unbewiesene Behauptungen ritueller sexueller Gewalt mit abstrusen Vorstellungen von mind control und zielgerichteter Persönlichkeitsspaltung einhergehen, verdeutlicht die Risiken von Diagnostik und Therapie, die zu sehr auf Symptomen und Eindrücken beruhen.

Andreas Mokros ist Professor für Persönlichkeits-, Rechtspsychologie und Diagnostik an der FernUniversität in Hagen und Dekan der dortigen Fakultät für ­Psychologie.

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