Die Inflationsrate ist seit dem Hoch im Jahr 2022 wieder gesunken. Aber vor allem die Preise für Lebensmittel stiegen zwischenzeitlich weiter überdurchschnittlich. Was ist Angst vor Inflation?
Das ist eine schwierige Frage, weil sich in dem, was wir Inflation nennen, sehr viel verschränkt – etwa die Frage, wie die Gesellschaften mit Teuerungsraten umgehen, das kann sehr unterschiedlich sein. Ich bin zwar Psychologe, komme aber aus einer Soziologenfamilie und habe gelernt, dass es wichtig ist, zunächst von den realen ökonomischen Erfahrungen auszugehen. Das bedeutet zu fragen, was „Inflation“ konkret für eine Familie oder Einzelne bedeutet. Heißt es, dass ein Existenzkampf beginnt und jemand seine Brötchen nicht mehr bezahlen kann? Bedeutet es Abschmelzen von Sparvermögen oder ist gemeint, dass aus 10 Millionen 9,5 Millionen Euro werden?
Wenn es um den Überlebenskampf geht, ist nicht viel Raum für Psychologie, höchstens für Resilienz, also die Frage: Wie gut bewältige ich die Situation? Anders in der Mittelschicht: Die Existenz ist durch die Inflation zwar meist nicht akut bedroht, aber es macht sich Angst davor breit. An dieser Stelle kommt die Psychologie ins Spiel: die persönliche kulturelle Mentalität und die individuelle Ebene, also die eigenen Erfahrungen. Da würde ich sagen, dass die emotionale Bedeutung von Inflation eng mit der Bedeutung von Geld verbunden ist.
Wie meinen Sie das?
Die Frage lautet, was kann ich mit Geld herstellen? An erster Stelle ist das Sicherheit, indem ich beispielsweise Geld spare. Ich will meine Lebensgrundlage für die Zukunft sichern, auch für meine Kinder. Die Inflation greift dieses Sicherheitsgefühl an, es wird deutlich, dass es für die Zukunft keine Sicherheit gibt. Inflation löst eine Urangst aus, dass die Kontrolle über das Leben verlorengeht.
Der Umgang mit der Teuerung ist in verschiedenen Ländern sehr unterschiedlich. Wie sieht es in Deutschland aus?
In Deutschland existiert allgemein ein hohes ökonomisches Sicherheitsbedürfnis, man möchte sich versichern in Bezug auf mögliche Verluste. Es wird wenig Risiko toleriert. In den USA ist das anders, wo im Vergleich viel mehr Menschen an der Börse sind, da werden viel mehr Verluste hingenommen. Die Zukunft ist für uns alle unvorhersehbar: ob man das als Bedrohung empfindet oder als Chance, das hat etwas mit kulturellen Mentalitäten zu tun.
Das hohe Sicherheitsbedürfnis in Deutschland hängt mit historischen Erfahrungen zusammen. Meines Erachtens sind mindestens zwei von besonderer Bedeutung: Die Hyperinflation von 1923, das ist bis heute das Schreckgespenst und wird transgenerational in Familien weitergetragen. Jedoch nicht in Form von Wissen, wie „Der Opa ist damals pleite gegangen“, eher in affektiver Form, es wird also indirekt vermittelt: „Sei vorsichtig mit Geld, darauf kann man sich nicht verlassen. Wir müssen Sachwerte haben, Immobilien, Gold.“
Das weitere Ereignis ist die Währungsreform im Jahr 1948. Die Reichsmark verlor von einem Tag auf den anderen extrem an Wert. Dass diese Werte von der Regierung kurzerhand gestrichen wurden, das war eine ganz einschneidende Erfahrung für viele, und auch das wurde in den Familien weitergeben.
Wie genau kann man sich diese transgenerationale Weitergabe vorstellen?
Das Grundprinzip ist, dass man gerade nicht darüber spricht. Worüber man spricht, dazu kann man sich verhalten. Die unausgesprochenen emotionalen Prozesse und die daraus resultierende Atmosphäre, die kommen wie Tatsachen daher, mit denen wir aufwachsen, die wir erst einmal nicht hinterfragen. Es herrscht zum Beispiel ein Klima von Angst in Bezug auf Geld, man will das nicht hergeben, hat Angst, dass irgendjemand einem etwas wegnehmen könnte. Diese emotionale Grundstimmung kann sehr prägend sein.
Angst vor Inflation ist die Angst, dass man nicht mehr sicher ist. Ist es auch Angst vor Verlust?
Es gibt diese traumatische Angst, alles zu verlieren, was das eigene Leben ausmacht. Es gibt vielleicht so etwas wie eine dämmrige Erinnerung, dass so etwas wirklich passieren kann und in der deutschen Geschichte nicht nur einmal geschehen ist – und auch anderswo in der jüngeren Geschichte passiert ist. Das sind grundlegende Existenzängste.
In die Angst vor der Inflation kann sich noch etwas anderes mischen: beispielsweise eine Angst vor dem Verlust von Anerkennung, dem Verlust des eigenen Wertes. Der Selbstwert ist in unserer Gesellschaft stark mit dem materiellen Wert gekoppelt: Wie viel verdient man, wie viel kann man sich leisten? Darum herum gruppieren sich Selbstwertprozesse: Wie kann ich wohnen, reisen, was kann ich anziehen, essen und meinen Kindern ermöglichen. Damit ist immer zumindest auf einer unbewussten Ebene die Frage verbunden: Was bin ich wert? Was ist meine Lebenszeit wert? Ich habe so hart gearbeitet, um mir etwas Vermögen zu erarbeiten. Das verliert jetzt an Wert; verliert auch die Zeit, die ich reingesteckt habe, an Wert? Dann bedeutet Inflation auf einer psychologischen Ebene: Nicht nur das Geld, mein ganzes Leben verliert an Wert. Diese Furcht ist vor allem in der Mittelschicht verbreitet, wo Menschen meistens für einen kleinen Wohlstand viel Lebenszeit opfern müssen. Im Geld und Besitz stecken auch unsere emotionalen Werte, unsere Hoffnungen, unser Selbstwert, er ist daran gekoppelt. Das kann auf einer unbewussten Ebene liegen: Bewusst hat man vielleicht die Einstellung, dass einem materielle Werte nichts bedeuten, aber wenn es wirklich einmal ums Geld geht, kommen plötzlich starke Affekte ins Spiel.
Wie gelingt es, sich losgelöst von Geld und Einkommen wertvoll zu fühlen?
In einer Gesellschaft, die auf Konsum, Besitz und Einkommen beruht, ist es sehr schwer, sich davon unabhängig zu machen. Man kann aber mithilfe des Reflektierens Abstand schaffen. Vielleicht ist die Inflation eine Gelegenheit, das eigene Verhältnis zum Geld zu hinterfragen: Was bedeutet es mir? Oftmals findet man zu dieser Frage einen Zugang, wenn man sich auf die eigene Familiengeschichte bezieht. In welcher „Geldatmosphäre“ bin ich aufgewachsen? Man kann sogar noch ein oder zwei Generationen weiter zurückgehen: Was gab es für Erfahrungen? Daraus lässt sich vielleicht ableiten: Warum habe ich so starke Ängste, warum fühle ich mich so stark unter Druck, ist das nur die reale Situation oder kommt da noch etwas anderes hinzu, das mit meiner Geschichte zu tun hat? Unabhängig von Geld zu leben ist nicht möglich, aber man kann doch die unbewussten Reaktionsweisen etwas lockern.
Manchmal wird bei uns „die Konsumgesellschaft“ kritisiert und dann das Bild glücklicher „Ureinwohner-Gesellschaften“ beschworen.
Diese Bilder sind meiner Meinung nach Projektionen. Wenn man arm ist, kämpft man um seine Existenz, das ist nicht schöner. Die meisten Menschen wollen gern etwas besitzen, das ist nicht der Kapitalismus, das gibt es auch in Nicht-Konsumgesellschaften. Der Haken liegt woanders: In kapitalistischen Gesellschaften gilt Besitz als Mittel, um noch mehr Besitz zu erzeugen. Dinge nur zu besitzen, sich daran zu erfreuen und es dabei bewenden zu lassen ist bereits ein Verstoß gegen kapitalistische Regeln. Das Paradigma „Wachstum, Wachstum, Wachstum“ ist noch längst nicht aus unseren Köpfen verschwunden. Das erzeugt enormen Druck. Besitz an sich wächst nicht, man muss etwas tun.
Geht es nun darum, dass wir lernen müssen zu verzichten?
Das ist die Chance der aktuellen Entwicklung. Und „müssen“ steht dabei gar nicht im Vordergrund. Im „Verzicht“ steckt ein Stück eigener Wille. Verzicht heißt, dass ich mich von etwas lösen kann, wenn auch manchmal erst unter Druck. Verzicht kann eine Chance sein. Man kann etwa versuchen, sich von bestimmten Dingen freizumachen. Auch beim Thema Klimawandel wäre das ein neuer Gedanke: Wir verzichten nicht aus Not, sondern aus Freiheit. Weil wir eigentlich gerne bescheiden leben, daran auch etwas Erleichterndes ist, wenn es nicht gleichbedeutend ist mit materieller Not. Die Klimadebatte wird aber anders geführt: Wir müssen es tun, sonst kommt was Schlimmes.
Wir führen die Klimadebatte so, dass es uns Angst macht?
Ja. Und wenn man Angst hat, ist man besonders wenig bereit, etwas zu verändern. Aber das gilt nicht nur für den Klimawandel: In der westlichen Gesellschaft hat jede und jeder Angst, ins Hintertreffen zu geraten. Das ist unsere reale Lebenserfahrung. Wir alle wollen unsere eigenen Lebensmöglichkeiten ausschöpfen. Zugleich leben wir in einer Konkurrenzgesellschaft. Wir bestimmen uns durch das, was wir leisten. Individuen konkurrieren, jeder muss maximal das tun, was er kann, um sich Vorteile zu sichern, da kann man sich Verzicht nicht leisten.
Viele fühlen sich unter Druck, etwas darzustellen, aus dem Gefühl heraus, sonst unwichtig oder überflüssig zu sein. Man hat den Wunsch nach Aufstieg, zugleich Angst vor dem Abstieg, identifiziert sich nach oben, möchte sich nach unten abgrenzen. Das betrifft insbesondere die Mittelschicht. Wenn ich ein schickes Auto kaufe, dann bin ich gefühlt schon fast Oberschicht. Es existiert ein psychischer Druck, um seinen Platz kämpfen zu müssen, und das macht es schwer, auf den teuren Wagen zu verzichten.
Wie kann man dafür sorgen, dass man eigene Geldängste Kindern nicht ungefiltert weitergibt?
Generell halte ich es für sinnvoll zu versuchen, sich seine eigenen Ängste bewusstzumachen. Bei Kindern halte ich zweierlei für gut: Einerseits sollte man nicht der „magische Goldesel“ sein und einfach alles bezahlen, was gewünscht wird. Denn so entsteht das Gefühl, es gebe keine Grenze.
Aber man sollte auch nicht zu einem „Racheengel“ werden, wenn die Kinder zum Beispiel Probleme haben, mit ihrem Taschengeld zurechtzukommen. Stattdessen sollte man sich gemeinsam überlegen: Wie ist das gekommen? Dies sollte man in einer Atmosphäre von Wohlwollen tun, nicht von Angst.
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Dr. Jakob Müller ist Psychologe, psychologischer Psychotherapeut und Psychoanalytiker. Zusammen mit Dr. Cécile Loetz betreibt er den Podcast Rätsel des Unbewußten (psy-cast.de)
Wir können uns selbst Fragen stellen und versuchen zu reflektieren: Wie war das in meiner Familie, in welcher „Geldatmosphäre“ bin ich aufgewachsen?