"Unser Selbstwert ist an materielle Werte gekoppelt"

Warum in Deutschland so viele Menschen Angst vor der Inflation haben, erklärt der Psychoanalytiker Jakob Müller.

Auch im Supermarkt sind die Preise erheblich angestiegen © SolStock/Getty Images

Die Inflationsrate ist in den letzten drei Monaten so stark gestiegen wie zuletzt im Jahr 1974 während der Ölkrise. Was ist Angst vor Inflation?

Das ist eine schwierige Frage, weil sich in dem, was wir Inflation nennen, sehr viel miteinander verschränkt: etwa die Frage, wie gehen Gesellschaften mit Teuerungsraten um, das kann sehr unterschiedlich sein. Ich bin zwar Psychologe, komme aber aus einer Soziologenfamilie und habe gelernt, dass es wichtig ist, zunächst von den realen ökonomischen Erfahrungen auszugehen. Das bedeutet in diesem Fall zu fragen, was „Inflation“ konkret für eine Familie oder Einzelne bedeutet. Heißt es, dass da ein Existenzkampf beginnt und jemand seine Brötchen nicht mehr bezahlen kann, bedeutet es Abschmelzen von Sparvermögen oder ist gemeint, dass aus 10 Millionen 9,5 Millionen Euro werden? Diese Ebene ist erst mal wichtig.

Wenn es um den Überlebenskampf geht, ist nicht viel Raum für Psychologie, höchstens für Resilienz, also die Frage: Wie gut bewältige ich die Situation? Anders in der Mittelschicht: Die Existenz ist durch die Inflation zwar meist noch nicht akut bedroht, aber es macht sich Angst davor breit. An der Stelle kommt die Psychologie ins Spiel: die persönliche kulturelle Mentalität und die ganz individuelle Ebene, also die eigenen Erfahrungen. Und da würde ich sagen, dass die emotionale Bedeutung von Inflation eng mit der Bedeutung von Geld verbunden ist.

Wie meinen Sie das?

Die Frage lautet, was kann ich mit Geld herstellen? An erster Stelle ist das Sicherheit, indem ich beispielsweise Geld spare. Ich will meine Lebensgrundlage so sichern, dass ich auch in Zukunft Sicherheit habe, auch für meine Kinder. Die Inflation greift dieses Sicherheitsgefühl an, es wird deutlich, dass es für die Zukunft keine Sicherheit gibt. Inflation löst eine Urangst aus, dass diese Sicherheit, diese Kontrolle über das Leben verloren geht. Die Gesellschaft bildet für diese Urangst und das Gefühl des Kontrollverlusts den großen Rahmen, innerhalb dieses Rahmens sind es die Familientraditionen und innerhalb dieser die eigenen Erfahrungen.

Sie sagen, dass der Umgang mit Teuerungsraten in den verschiedenen Ländern sehr unterschiedlich ist. Wie sieht es in Deutschland aus?

In Deutschland existiert allgemein ein hohes ökonomisches Sicherheitsbedürfnis, man möchte sich versichern in Bezug auf mögliche Verluste, gewissermaßen am liebsten vertraglich sicherstellen, dass es uns morgen auch noch gut geht, auch ganz konkret mit dem Abschluss von Versicherungen. Es wird wenig Risiko toleriert. In den USA ist das anders, wo vergleichsweise viel mehr Menschen an der Börse sind, da wird viel mehr Risiko akzeptiert, werden viel mehr Verluste hingenommen. Die Zukunft ist aber letztlich für uns alle unkontrollierbar und unvorhersehbar: ob man das als Bedrohung empfindet oder als Chance, das hat auch etwas mit kulturellen Mentalitäten zu tun.

Das hohe Sicherheitsbedürfnis in Deutschland hängt mit historischen Erfahrungen zusammen. Meines Erachtens sind mindestens zwei von besonderer Bedeutung: Die Hyperinflation von 1923, das ist bis heute das Schreckgespenst, das wird transgenerational in Familien weitergetragen. Jedoch nicht in Form von Wissen, wie „Der Opa ist damals pleite gegangen“, eher in affektiver Form, es wird also indirekt vermittelt: „Sei vorsichtig mit Geld, darauf kann man sich nicht verlassen, es ist unbeständig. Wir müssen Sachwerte haben, Immobilien, Gold.“

Das zweite Ereignis ist die Währungsreform des Jahrs 1948. Die Reichsmark, das Sparvermögen, Geld, alles verlor von einem Tag auf den anderen extrem an Wert. Dass das möglich war, dass diese Werte von der Regierung kurzerhand gestrichen wurden, das war eine extrem einschneidende Erfahrung für viele und auch das wurde in den Familien weitergeben.

Wie genau kann man sich diese transgenerationale Weitergabe vorstellen?

Das Grundprinzip ist, dass man gerade nicht darüber spricht. Worüber man spricht, dazu kann man sich verhalten. Die unausgesprochenen emotionalen Prozesse und die daraus resultierende Atmosphäre, die kommen wie Tatsachen daher, mit denen wir aufwachsen, die wir erst einmal gar nicht hinterfragen. Es herrscht zum Beispiel ein Klima von Angst in Bezug auf Geld, man will das nicht hergeben, hat Angst, dass irgend jemand einem etwas wegnehmen könnte. Diese emotionale Grundstimmung kann sehr prägend sein und ist ganz schwer abzustellen. Ich kenne es auch von mir. Ich misstraue beispielsweise Aktien, obwohl ich wenig darüber weiß, ich empfinde dennoch ein ganz grundlegendes Unbehagen.

Angst vor Inflation ist die Angst, dass man nicht mehr sicher ist. Ist es auch Angst vor Verlust?

Es gibt diese traumatische Angst, alles zu verlieren, was das eigene Leben ausmacht. Es gibt vielleicht so etwas wie eine dämmrige Erinnerung, dass so etwas wirklich passieren kann und ja in der deutschen Geschichte nicht nur einmal geschehen ist. Und auch anderswo in der jüngeren Geschichte passiert ist, etwa während der Finanzkrise in Griechenland. Das sind eigentlich ganz grundlegende Existenzängste. Aber in die Angst vor der Inflation kann sich auch noch etwas anderes mischen: beispielsweise eine Angst vor dem Verlust von Anerkennung, dem Verlust des eigenen Wertes. Der Selbstwert ist in unserer Gesellschaft stark mit dem materiellen Wert gekoppelt: Wie viel verdient man, wie viel kann man sich leisten? Darum herum gruppieren sich auch Selbstwertprozesse, vielleicht mehr, als wir es wollen: Wie kann ich wohnen, reisen, mobil sein, was kann ich anziehen, essen, was kann ich mir kaufen, leisten, auch meinen Kindern ermöglichen. Damit ist immer auch zumindest auf einer unbewussten Ebene die Frage verbunden: Was bin ich wert? Was ist meine Lebenszeit wert? Ich habe so hart gearbeitet, um mir etwas Vermögen zu erarbeiten. Das verliert jetzt an Wert, verliert auch die Zeit, die ich reingesteckt habe, an Wert? Dann bedeutet Inflation auf einer psychologischen Ebene: nicht nur das Geld, mein ganzes Leben verliert an Wert. Diese Furcht ist weniger in der Oberschicht, sondern vor allem in der Mittelschicht verbreitet, wo Menschen meistens für ein kleines Vermögen oder einen kleinen Wohlstand sehr viel Lebens- und Arbeitszeit opfern müssen. Im Geld und Besitz stecken dann auch unsere emotionalen Werte, unsere Hoffnungen, unsere Selbstwert, er ist daran gekoppelt.

Ginge es auch anders, sich also unabhängig vom Geld und Einkommen wertvoll zu fühlen?

Man versucht das und man will das ja gar nicht so. Keiner sagt, ich kopple meinen Selbstwert an Geld. Trotzdem: Die Wahrheit liegt auf dem Platz. Wenn es dann wirklich darum geht, dass man finanzielle Verluste hat oder sich diese abzeichnen, dann zeigt sich oftmals doch, wie sehr Geld mit Emotionen verbunden ist. In Freundschaften und in Familien, beispielsweise wenn es ums Erben geht, da ist dann plötzlich eine ganz andere Einstellung, dann können Menschen plötzlich auch sehr unangenehm werden. In einer Gesellschaft, die auf Konsum und Besitz und Einkommen beruht, ist es sehr schwer, sich davon völlig unabhängig zu machen. Möglich ist aber, dass man sich das bewusst machen kann, dass man also bewusst mit Hilfe des Reflektierens Abstand schafft.

Vielleicht ist die aktuelle Inflation jetzt eine Gelegenheit, das eigene Verhältnis zum Geld zu hinterfragen. Einfach ist das nicht, denn die Inflation setzt uns unter Druck, und unter Druck kann man nicht so gut nachdenken. Aber ich kann mich fragen: Was bedeutet mir Geld? Oftmals findet man zu dieser Frage einen Zugang, wenn man sich auf die eigene Familiengeschichte bezieht. In welcher „Geldatmosphäre“ bin ich aufgewachsen? Man kann sogar noch ein oder zwei Generationen weiter zurückgehen, das ist sehr spannend: Was gab es da für Erfahrungen? Daraus lässt sich vielleicht ableiten: Warum habe ich so starke Ängste, warum fühle ich mich so stark unter Druck, ist das nur die reale Situation, oder kommt da noch etwas anderes hinzu, das mit meiner Geschichte zu tun hat? Unabhängig von Geld zu leben, ist nicht möglich, aber man kann doch die unbewussten Reaktionsweisen etwas lockern.

Manchmal wird bei uns die „Konsumgesellschaft“ kritisiert und dann das Bild glücklicher „Ureinwohner-Gesellschaften“ beschworen, die nicht so auf Konsum und Besitz aus sind.

Diese Bilder, von den Amazonas-Einwohnerinnen und Einwohnern oder von Diogenes in der Tonne, das sind meiner Meinung nach Projektionen. Wenn man arm ist, kämpft man um seine Existenz, das ist nicht schöner. Das gilt auch für Menschen, die in den westlichen Gesellschaften mit Armut und ums Überleben kämpfen. Ein anderes Klischee stimmt in meinen Augen auch nicht: dass es genauso schwierig sei, reich zu sein. Natürlich gibt es in vermögenden Familien auch sehr spezielle Konflikte, werden über Geld beispielsweise starke Abhängigkeiten hergestellt. Aber ein großes finanzielles Polster erleichtert das Leben durchaus. Und je größer das Vermögen, desto bessere Möglichkeiten gibt es meistens ja auch, es vor der Inflation zu schützen.

Die meisten Menschen wollen gern etwas besitzen und für sich haben, das ist nicht der Kapitalismus, sondern das gibt es auch in den Nicht-Konsumgesellschaften. Der Haken liegt woanders: In westlichen und kapitalistischen Gesellschaften gilt Besitz als Mittel, um noch mehr Besitz zu erzeugen. Dinge einfach nur zu besitzen, sich daran zu erfreuen und es dabei bewenden zu lassen ist bereits ein Verstoß gegen kapitalistische Regeln. Etwas zu haben muss bei uns immer der Versuch sein, die Zukunft schon heute zu besetzen, also das, was man heute hat, nicht einfach nur zu genießen, sondern in die Zukunft zu investieren. Das erzeugt einen hohen Druck, dieses Paradigma "Wachstum, Wachstum, Wachstum", das ist noch längst nicht aus unseren Köpfen, auf gesellschaftlicher Ebene, aber auch für jeden einzelnen. Besitz an sich wächst aber nicht, man muss etwas tun. Und Inflation ist sogar Schrumpfung. Die Zukunft lässt sich nur sehr begrenzt kalkulieren.

Geht es nun darum, dass wir lernen müssen zu verzichten?

Das ist eigentlich die Chance der aktuellen Inflation. Und das „müssen“ steht dabei gar nicht im Vordergrund. Im „Verzicht“ steckt ein Stück eigener Wille drin, ein Stück Freiheit. Verzicht heißt, dass ich mich von etwas lösen kann, etwas von mir abstoßen kann, wenn auch manchmal erst unter Druck. Verzicht kann auch eine Chance sein, dass man versucht, sich von bestimmten Dingen freizumachen. Auch beim Thema Klimawandel wäre das ein neuer Gedanke: Wir verzichten nicht aus Not, sondern aus Freiheit. Weil wir eigentlich gerne bescheiden leben, daran auch etwas Erleichterndes ist, wenn es nicht gleichbedeutend ist mit materieller Not, wie es ja beispielsweise die Minimalismus-Bewegung vormacht. Die Klimadebatte wird aber anders geführt: Wir müssen es tun, sonst kommt was Schlimmes.

Wir führen die Klimadebatte so, dass es uns Angst macht?

Ja. Und wenn man Angst hat, ist man besonders wenig bereit, etwas zu verändern, dann schaut jeder nur, dass er selbst heil bleibt. Aber das gilt nicht nur für den Klimawandel: In der westlichen Gesellschaft hat jede und jeder Angst, ins Hintertreffen zu geraten. Das ist unsere reale Lebenserfahrung. Wir alle wollen Individuen sein, unsere eigenen Lebensmöglichkeiten ausschöpfen. Zugleich leben wir in einer Konkurrenzgesellschaft. Traditionen sind weniger wichtig, wir bestimmen uns durch das, was wir leisten, welche Zukunftsräume wir für uns erobern können, nicht so sehr, aus welchen Vergangenheitsräumen wir kommen. Individuen konkurrieren, jeder muss für sich schauen, jeder muss maximal das tun, was er kann, um sich Vorteile zu sichern, da kann man sich Verzicht nicht leisten.

Das ist aber eben nicht nur einfach menschliche Natur, es ist auch ein gesellschaftliches Phänomen. Das war bis vor ein paar Jahren noch geradezu eine politische Maxime, wie Individuen sich in unserer Gesellschaft verhalten sollen, man denke nur an die Ich-AGs. Viele fühlen sich unter Druck, etwas darzustellen, aus dem Gefühl heraus, sonst unwichtig oder überflüssig zu sein. Man hat den Wunsch nach Aufstieg, zugleich Angst vor dem Abstieg, identifiziert sich nach oben, möchte sich nach unten abgrenzen. Das betrifft insbesondere die Mittelschicht, die auch in der Inflationskrise unter Druck gerät. Das sind Gefühle, über die man nicht so gerne spricht, aber es spielt eben doch häufig eine Rolle. Wenn ich auf ein schickes Auto spare und es kaufe, dann bin ich gefühlt schon fast Oberschicht, kann zeigen, dass ich etwas bin. Es existiert ein psychischer Druck, um seinen Platz kämpfen zu müssen, das macht es extrem schwer, auf den teureren Wagen zu verzichten. Sicherlich beginnt hier gerade ein Mentalitätswandel, vielleicht muss man nicht mehr immer die dickste Karre haben. Zumindest könnte ich mir vorstellen, dass sich das langsam durchsetzt. Zugleich sind aber beispielsweise Fernreisen noch immer ein sehr wichtiges Statusmoment. Denken Sie nur an die Reaktionen, als wir während der Pandemie nicht in den Urlaub fahren konnten, wie fast undenkbar das für viele war, obwohl man sich auch ohne Fernreise sehr gut erholen kann. Zu zeigen: Ich kann in die Ferne fahren, an Orte, die wenige Generationen zuvor noch wie Namen aus einem Märchen klangen. Da schwingt etwas mit von: so weit bin ich gekommen, im wahrsten Sinne des Wortes. Natürlich gibt es viele Motive für das Reisen und man kann das nicht pauschalisieren, aber dieses Moment sollte man trotzdem nicht vernachlässigen.

Manche Erfolgreiche demonstrieren gern ihre Fitness, so laufen sie Marathon. Gehört das auch zu dem Wettkampf?

Auch hier verbieten sich natürlich pauschalisierende Antworten, die Freude am Sport hat nicht immer etwas mit dem kapitalistischen Konkurrenzkampf zu tun. Aber zum Teil gibt es diese Verbindung schon: Ökonomisch fit sein, sich fit zu machen für die Konkurrenz, verbindet sich mit: körperlich fit sein, gesund zu sein, jeden inneren Widerstand und jede Erschöpfung niederringen zu können. Das hat gerade in den letzten Jahrzehnten fast eine moralische Dimension bekommen: ich bin ein guter Mensch, wenn ich fit bin und meinen inneren "Schweinehund" bezwingen kann, während Menschen, die das vermeintlich nicht gut können, eher als defizitär gelten. Das wirkt auf mich allerdings innerlich unausgeglichen, diese Hatz, dieser extreme Druck. Es scheint eine Identifikation mit dem „Hamsterrad“ zu geben – selbst, wenn man eigentlich nicht muss, läuft man trotzdem weiter, immer bereit zur Leistung.

Ich denke, je zufriedener wir sind, je erfüllter wir uns in unserem Leben und unserer Tätigkeit fühlen, desto eher akzeptieren wir ökonomische Einschnitte. Was natürlich in manchen Berufen oder Branchen auch ausgenutzt wird.

Wenn wir selbst aufgewachsen sind in einem Klima der Unsicherheit und der Angst vor dem Werteverlust, wie können wir als Erwachsene damit umgehen?

Es kommt auf die Bedeutung an, die das Geld für mich und in meiner Familiengeschichte hat. Ist es beispielsweise ein heimliches Bindemittel zwischen den Generationen, etwas, worin auch viele emotionale Werte weitergegeben werden? Dann habe ich vielleicht auch Angst, mit dem Geld auch die Liebe und Anerkennung der Eltern zu verlieren. Oder es gibt vielleicht umgekehrt den Wunsch, alles loszuwerden, um sich auch aus familiären Abhängigkeiten zu befreien.

Als eine Grundregel hat sich gezeigt: Je mehr man ein Urvertrauen in sich und die anderen hat, dass alles schon gut wird, desto mehr kann man mit Verlusten umgehen. Das Geld wird schon wiederkommen. Das ist vielleicht auch eine Illusion, denn die Zukunft kennt niemand. Aber manchmal braucht man Illusionen, um mit einem gewissen Ruhegefühl leben zu können, das ist in Ordnung, so lange es nicht zu groben Realitätsverzerrungen führt. Dazu gehört sicher auch eine gewisse Grundsicherheit im Umgang mit Geld. Ist dieser mit einer gewissen Großzügigkeit verbunden, mit der Fähigkeit, auch mal Verluste hinzunehmen und beim Geld nicht ständig fünfmal nachzuzählen, dann können wir Verluste besser ertragen. Aber wie gesagt, kommt es dabei sehr auf die ökonomische Situation an, in der man sich befindet.

Wie kann man dafür sorgen, dass man solche Ängste Kindern nicht ungefiltert weitergibt?

Generell halte ich es für sinnvoll zu versuchen, sich die eigenen Ängste bewusst zu machen, dadurch auch ein Stück weit versucht, sich von den Ängsten der Vorfahren zu lösen, zumindest nicht mehr so darauf fixiert zu sein. Bei Kindern halte ich zweierlei für gut: Einerseits sollte man nicht der „magische Goldesel“ sein und einfach alles bezahlen, was gewünscht wird. Denn so entsteht das Gefühl, es gibt da keine Grenze. Gerade wenn man Geld hat, halte ich es für wichtig, die Begrenztheit von materiellen Dingen zu vermitteln.

Aber man sollte auch nicht zum „Racheengel“ werden, wenn Kinder zum Beispiel Probleme haben, mit ihrem Taschengeld zurechtzukommen. Stattdessen sollte man sich gemeinsam überlegen, wie ist das gekommen? Dies sollte man in einer Atmosphäre von Wohlwollen tun, nicht von Angst.

Mir scheint auch sinnvoll, über Nachrichten der aktuellen Inflation zu sprechen. In Bezug auf die Familiengeschichte kann das sogar besonders spannend sein. Allerdings ist auch das nicht einfach.

Sie wissen ja, dass zwei Themen der größte Sprengstoff in Familiengesprächen sind und die man etwa am Weihnachtstisch niemals ansprechen sollte: Kindererziehung und Geld. Geht man indessen das Thema Geld eher biografisch und historisch an, stellt Familienmitgliedern eher interessierte Fragen, dann nähert man sich einander an, ohne dass das Gift des negativen Klimas in die Familie gelangt. Dabei kommt es jedoch immer auf das Verhältnis besonders zu den eigenen Eltern an. Es ist äußerst schwierig, ihnen gegenüber frei zu sprechen, wenn Angst und Schuld empfunden werden.

Manchmal reagieren Eltern auf das Thema Geld ja auch geradezu autoritär, lassen keine Kompromisse und abweichende Meinungen zu, wollen hier unbedingt die Hand draufhalten und Kontrolle ausüben.

Psychologisches Wissen kann in solchen Fällen schon hilfreich sein, beispielsweise dass hinter jedem autoritären Charakter starke Ängste stehen. Ziel ist nicht, etwas zu entschuldigen oder sich anzupassen, wohl aber, es besser zu verstehen: Hinter solchen Ängsten stehen oftmals regelrechte Auslöschungsängste, die nicht selten auch einen historischen Kern in der Familiengeschichte haben. Es hilft, dieses Wissen im Hinterkopf zu haben. Dann fühlt man sich nicht ganz so in die Ecke gedrängt, das ist schon viel. Man regt sich nicht mehr so auf.

Kann man das Gefühl von Sicherheit, das man als Kind nicht kennengelernt hat, noch nachholen?

In gewissem Umfang schon – sonst würde es keine erfolgreiche Psychotherapie geben. Aber nicht jeder muss eine Psychotherapie machen. Hier stehen die Beziehungserfahrungen an erster Stelle, in einer guten Beziehung oder Freundschaft kann man das Grundgefühl von Sicherheit und Geborgenheit ein Stück weit nachholen. Es geht aber nicht nur ums Nachholen, sondern auch darum, zu betrauern, was man in der Kindheit nicht hatte, um sich ein Stück weit von der eigenen Vergangenheit zu lösen. Aber das Thema Geld bleibt häufig ausgeklammert, sowohl in Freundschaften als auch in Therapien. Wird es virulent, geht es oft auf eine ganz andere Ebene. Sie sehen, ich habe nicht so eine gute Antwort auf diese Frage, weil das Geld eben doch immer eine Sonderrolle hat.

Wo es ums Individuum geht, besteht die zentrale Lebensaufgabe darin, sich aus den elterlichen Bindungen zu lösen und einen eigenen Weg zu finden. Das, was gut war, aufzunehmen und zu verinnerlichen und das, was für uns nicht gut war, aufzugeben. Nicht einfach alles zu wiederholen, sondern etwas Neues zu ermöglichen, das ist die größte psychische Herausforderung. Nur beim Geld ist es oft gar nicht so leicht. Das fällt mir gerade auf: Wir Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytiker sollten uns wirklich noch intensiver mit der emotionalen Bedeutung von Geld beschäftigen. Das Thema wird mindestens so sehr vom Geist der Verdrängung umweht wie Fragen der Sexualität.

Dr. Jakob Müller ist Psychologe, psychologischer Psychotherapeut und Psychoanalytiker. Zusammen mit Dr. Cécile Loetz betreibt er den Podcast »Rätsel des Unbewussten« (psy-cast.org).

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