Im Sommer 2022 verbrachte ich viel Zeit im Supermarkt. Nicht weil es dort schön kühl war, sondern weil ich kaum glauben konnte, dass schon wieder alle Preise im Wochentakt gestiegen waren. Bei jedem Besuch hatte ich noch das Preisschild der Vorwoche vor Augen und die relativ stabilen Vor-Inflationspreise aus früheren Zeiten. Centgenau. Weil das Stück Butter auf einmal einen Euro mehr kostete, musste ich den Aufpreis beispielsweise beim Joghurt einsparen. Dabei wusste ich, dass ich mir meinen Einkauf locker…
Sie wollen den ganzen Artikel downloaden? Mit der PH+-Flatrate haben Sie unbegrenzten Zugriff auf über 2.000 Artikel. Jetzt bestellen
ich den Aufpreis beispielsweise beim Joghurt einsparen. Dabei wusste ich, dass ich mir meinen Einkauf locker auch ohne diese Rechnerei leisten konnte.
Ich beobachtete die anderen Menschen. Touristinnen wie Einheimische griffen sorglos ins Kühlregal und packten Käse, Fleisch und Lachs ein, obwohl sich die Preise teils verdoppelt hatten. Auf die Preisschilder guckte kaum jemand. Was war da los? Auf meine empörten Schilderungen über die Preissteigerungen reagierten meine Lieben mit kurzem Schweigen und stoischer Gelassenheit: „Ist halt so jetzt.“ Ich ärgerte mich darüber, dass ich wohl der Einzige war, der viel Zeit mit Preisvergleichen verschwendete.
Geldsorgen, die kognitiv bestrafen
In der Marktforschung ist schon lange bekannt, dass ärmere Menschen am Ende eines Einkaufs oft centgenau wissen, wie viel sie ausgegeben haben. Wer besser dasteht, hat in aller Regel keine Ahnung, wie viel auf dem Kassenbon steht. Das fand die Ökonomin Isabel María Rosa-Díaz von der Universität Sevilla heraus. Sie fing vor Supermärkten 600 Kundinnen und Kunden ab und bat sie, sich an die bezahlten Preise zu erinnern. Aus dem Stegreif schafften das 56 Prozent der Menschen mit einem niedrigeren Einkommen, aber nur 34 Prozent derjenigen mit einem hohen Einkommen.
Doch die Rechnerei hat ihren Preis. Wer ständig Kosten vergleicht, hat dafür im Arbeitsgedächtnis weniger Platz für anderes. Die Wissenschaft spricht davon, dass Armutsdenken „kognitive Bandbreite“ kostet. Die verlorene Denk-leistung lässt sich sogar per Intelligenztest messen. Bis zu dreizehn IQ-Punkte können die Geldsorgen vereinnahmen. Die geistige Minderung ist während dieser Grübelei größer als nach einer durchzechten Nacht. Das zeigt eine Studie von 2013, in der Teilnehmende den fehlenden Teil eines logischen Bildmusters ergänzen mussten – die Aufgabe ist Teil gängiger IQ-Tests. Die gute Nachricht: Der Verlust ist nur temporär.
Die schlechte: Wer zum Aufnahmetest an die Uni fährt und während der Prüfung darüber nachgrübelt, dass nächste Woche die Miete fällig wird, obwohl das Geld dafür fehlt, wird für diese Sorgen kognitiv bestraft. Im Zweifel kann der IQ-Verlust den Unterschied zwischen einer normalen und einer Hochbegabung ausmachen. Die Verhaltensökonomen Eldar Shafir von der Princeton University und Sendhil Mullainathan vom Massachusetts Institute of Technology nennen das Phänomen cognitive bandwith tax.
Angst vor Gesundheitskosten
Die Forscher überprüften diesen Armutstribut in mehreren Experimenten. In einem Versuch befragten sie 100 Menschen in einem Einkaufszentrum nach ihrem Einkommen und teilten sie in zwei Gruppen ein. In der ersten Gruppe erhielten „Arme“ wie „Reiche“ dieselbe Aufgabe: Sie mussten sich vorstellen, eine ungeplante Autoreparatur schlüge mit 150 US-Dollar zu Buche. Gleich danach setzten sich die Befragten an Intelligenztests, die die kognitive Kontrolle und die fluide Intelligenz ermitteln. Mit einem für IQ-Tests typischen Bilderrätsel maßen die Forschenden das logische Denken und die Fähigkeit, Probleme zu lösen. Arme wie Reiche schnitten gleich gut ab.
Auch die zweite Gruppe bestand aus Gut- und Geringverdienenden. Doch in diesem Fall sollte die überraschende Autoreparatur 1500 US-Dollar kosten. Danach setzten sich die Teilnehmenden wie im ersten Versuch an die Intelligenztests. Diesmal schnitten die Armen um knapp zwei Drittel schlechter ab als die Reichen. Der Gedanke an die knappe Ressource Geld hatte ihre Denkleistung deutlich verschlechtert. Auf die Denkleistung der wohlhabenderen Probanden hatte der Preis in beiden Versuchen keinen Einfluss.
Die Krux am Armutsdenken ist, dass es sich nicht abstellen lässt – nicht einmal im Notfall. Das zeigt eine US-amerikanische Studie, an der ebenfalls Mullainathan und Shafir beteiligt waren. Dieses Mal bat das Team mehr als 500 britische Probandinnen und Probanden, sich folgendes Szenario vorzustellen: Ihr Arzt ruft Sie nach einer Untersuchung an und eröffnet Ihnen, Sie seien ernsthaft krank. Glücklicherweise gibt es eine gute Therapie, und der Arzt verschreibt Ihnen die notwendigen Medikamente. Was geht Ihnen durch den Kopf?
Aus einer Liste suchten die Teilnehmenden dann emotionsgeladene Wörter wie „ängstlich“ oder „erleichtert“ aus. Daneben gab es eine Liste mit Finanzwörtern wie „Bezahlung“ und „Kosten“. Zwar kreuzten arme wie reiche Probandinnen die gleichen Emotionswörter an, doch die Armen sorgten sich um die Kosten fast genauso wie um ihre Gesundheit. Überrascht waren die Forschenden davon nicht. In einem Folgeexperiment zeigten sie sogar, dass sich diese intrusiven Gedanken nicht unterdrücken lassen.
Einziger Besitz: ein roter Ford Fiesta
Auch bei uns zu Hause standen Geldsorgen im Mittelpunkt. Jede Rechnung für Wasser, Strom und Heizung glich einer Katastrophe und verschlechterte die Laune meiner Mutter. Nach ihrer Scheidung war sie mit uns Kindern in eine Sozialwohnung gezogen. Zwar gab es immer frisches Essen und ordentliche Kleidung. Doch ein bescheidener Urlaub an der Adria war in meiner Kindheit so selten wie eine Pizza. Wir besaßen kein Haus und keinen Notgroschen. Unser einziger Besitz war viele Jahre lang ein 88er roter Ford Fiesta.
Als ich acht Jahre alt war, schickte mich meine Mutter im Sommer als Kuhhirte-Azubi auf die Alm, damit ich sähe, „wie hart das Geld verdient wird“. Der Senner war ein kauziger Mann mit grauem Bart, Filzhut und dem landestypischen blauen Schurz. Mir war klar, dass ich in der Steinhütte auf Eis und Spielsachen verzichten musste. Doch der Senner hatte auch Regeln für die Basics. Auf dem Plumpsklo durfte man genau ein Blatt Toilettenpapier fürs kleine und drei fürs große Geschäft nehmen. Die erste Schelte ließ nicht lange auf sich warten.
Denn der Senner zählte nach. Jeden Tag. Wer hätte damit rechnen können? In genauso geiziger Manier ging es beim Essen weiter. Es gab Nudeln und Reis mit Butterpilzen, denn die wuchsen auf der Weide und waren nicht nur schmackhaft, sondern vor allem gratis. Es gab Butterpilze zu Mittag und zum Abendbrot. Jeden Tag. Obwohl ich die Schwämme bald satthatte, musste ich sie für uns beide kochen. Und die Kühe hüten, wenn der Senner auf die Jagd ging. Wie schwer das Geld verdient wird, habe ich in diesem Sommer übrigens nicht gelernt, weil mir der Senner den anfangs versprochenen Lohn vorenthielt und mich mit einem Kinderbuch abspeiste.
Tragisch fand ich den Verzicht zu Hause selten. Wer als Kind nie im Kino war, vermisst es nicht. So auch bei mir. Zu meinem ersten Kinofilm Kevin – Allein zu Haus luden mich Nachbarn im Jahr 1991 ein. Danach war ich lange Zeit nicht mehr im Kino, es fehlte mir kurioserweise auch dann nicht. Aus der Retrospektive finde ich den Verzicht eher zum Schmunzeln als tragisch, obwohl mir klar ist, dass meine Mutter unter den prekären Verhältnissen gelitten haben muss. Nach den Gesprächen mit Armutsforschenden wie Eldar Shafir ist mir heute allerdings klar: Armut und Knappheit in der Kindheit mitzuerleben hat mich geprägt und erklärt die scheinbar irrationalen Rechnereien vor dem Kühlregal meines Supermarktes.
Armut hinterlässt Spuren im Gehirn
Die erfahrene Armut im Kindesalter schlägt sich nicht nur gefühlt, sondern ganz messbar in der Hirnmasse nieder. Amerikanische Forschende haben sich dazu Magnetresonanzbilder von 2700 Kindern und Jugendlichen im Alter von 5 bis 18 Jahren angesehen und sie mit den Einkommen in deren Haushalt verglichen. Dabei entdeckten sie einen starken Zusammenhang zwischen dem sozioökonomischen Status von Kindern und dem Volumen in Hippocampus und Amygdala. Beide Hirnregionen sind bei ärmeren Kindern kleiner.
Das Phänomen ist besonders bei Jungen ausgeprägt und in der Spätpubertät am stärksten. Zwar ist die 2023 veröffentlichte Studie eine Preprint-Arbeit, die noch nicht von anderen Fachleuten begutachtet wurde, doch sie bestätigt eine ganze Reihe ähnlicher wissenschaftlicher Arbeiten. Wie schlagen sich der unterentwickelte Hippocampus und die verkleinerte Amygdala auf das Verhalten nieder? Darüber wollen die Forschenden in der Arbeit nicht spekulieren, deuten aber an, dass Emotionsregulierung und Stressreaktion negativ beeinflusst sein könnten.
Darüber wüsste ich gerne mehr. Der Neurowissenschaftler Jamie L. Hanson von der University of Pittsburgh ist der Erstautor der Studie und forscht seit Jahren zu den Auswirkungen von Armut auf das Gehirn. „Der Hippocampus ist als Erinnerungsspeicher wichtig für das Fällen von Entscheidungen“, sagt Hanson. Der Hippocampus formt aus neuen Erfahrungen Erinnerungen, die er als Kontext für Entscheidungen an andere Hirnregionen liefert. Dazu zähle beispielsweise der orbitofrontale Kortex gleich hinter unseren Augenbrauen. Mit ihm vergleichen und wägen wir ab.
Wenn wir Negatives erfahren, bedeutet das Stress, auf den der Hippocampus empfindlich reagiert. Besonders das Stresshormon Kortisol schädigt den Hippocampus und lässt ihn schrumpfen. Dann liefert er weniger Kontext, wodurch sich unsere Entscheidungen verschlechtern. „Ein Teufelskreis“, sagt Hanson. „Wenn Sie am Monatsende knapp dran sind und dann noch das Auto kaputtgeht, heißt das natürlich Stress.“ Wer unter finanziellem Dauerstress steht, trifft häufiger kurzsichtige Entscheidungen, die den Finanzen langfristig schaden. In der wissenschaftlichen Literatur ist bestens dokumentiert, dass arme Menschen öfter trinken, rauchen und zocken als die Mittelschicht. Dazu kommen Kurzzeitkredite für Kleinstbeträge, um beispielsweise ein kaputtes Wasserrohr bezahlen zu können. Die Zinsen dafür sind extrem hoch. Das wissen die Betroffenen natürlich. Doch was sollen sie machen? Das Loch muss gestopft werden.
Nichts wird einem geschenkt
Langfristig betrachtet ist dieses Verhalten ungünstig. Doch es sei ein Leichtes, armen Menschen ein Eigenverschulden vorzuwerfen, sagt Neurowissenschaftler Hanson. Um Armutsdenken zu verstehen, müsse man zuallererst die Lebensumstände in Betracht ziehen. Als bestes Beispiel dafür nennt er das Stanford-Marshmallow-Experiment des Psychologen Walter Mischel. Mischel hatte in den 1960er und 1970er Jahren in mehreren Versuchen Kinder in einem Raum mit einem Marshmallow allein gelassen.
Die drei bis fünf Jahre alten Kinder mussten entscheiden: Entweder sie warteten, bis der Versuchsleiter zurückkam, und bekamen zwei Marshmallows – oder sie riefen ihn sofort und erhielten nur eine der klebrigen Schaumsüßigkeiten. Die meisten Kinder hielten zwischen sechs und zehn Minuten durch. In den 1980er Jahren untersuchte Mischel, wie sich die Kinder entwickelt hatten. Diejenigen, die auf einen zweiten Marshmallow gewartet hatten, schnitten in Schule und Beruf besser ab. Seitdem gilt Belohnungsaufschub als eine vorteilhafte Tugend.
„Doch Belohnungsaufschub ist nicht immer sinnvoll“, sagt Hanson. Mischel wiederholte das Experiment später mit vaterlosen Kindern in der Karibik. Die meisten schoben die Belohnung nicht auf. Forschende der University of Rochester reproduzierten die Ergebnisse im Jahr 2013 und fanden heraus, warum: Wenn die Umgebung eines Kindes unzuverlässig ist, greift es sofort zu. „Das ist clever“, sagt Hanson. „Wenn Sie wissen, dass Ihnen im Leben niemand etwas schenkt, wäre es dumm, nicht sofort zuzupacken.“
Irgendwann war es bei uns zu Hause mit der Armut vorbei. Meine Mutter lernte während meiner Pubertät einen wohlhabenden Bauern kennen. Statt an die Adria ging es nach Elba, wir speisten sonntags in Gourmetrestaurants und konnten uns neue Autos leisten. Doch das Armutsdenken verschwand dadurch nicht. Die Speisekammer meiner Mutter musste immer proppenvoll sein. Einmal verriet sie mir, ihre Sorge stamme aus der Zeit, als sie nicht genug Geld hatte, um Lebensmittel zu kaufen.
Sucht an der Börse
Mein eigenes Armutsdenken erkannte ich erst auf den zweiten Blick. Obwohl mich Medizin faszinierte, entschied ich mich vor fast 25 Jahren erst einmal für ein Informatikstudium. Im Prinzip war das mein Marshmallowtest. Ein Medizinstudium hätte länger gedauert und weniger schnell gefruchtet. Es war die sprichwörtliche Taube auf dem Dach. Das Informatikstudium war kürzer und bald schon ordentlich bezahlt – der Spatz in der Hand. Also griff ich zu. Auch um der Unvorhersehbarkeit meines schwierigen Elternhauses zu entfliehen, das durch Streit und ständige Umzüge geprägt war.
Noch heute kann ich einiges an meinem Verhalten erkennen, das mit hoher Wahrscheinlichkeit auf meine Kindheit in relativer Armut zurückzuführen ist. Niemand mag Verluste, doch ich kann damit besonders schlecht umgehen. Das merkte ich im Sommer 2021, als ich anfing, in Aktienfonds zu investieren. Idealerweise kauft man Anteile und lässt sie jahrzehntelang liegen. Nicht so ich. Fieberhaft hing ich nach Feierabend an den Aktienkursen. Sobald sie minimal anstiegen, verkaufte ich. Dann kaufte ich erneut, bis irgendwann zwangsläufig die Kurse fielen.
Das ist nicht weiter schlimm, solange man nicht verkauft. Die Kurse gehen wie eine Achterbahn auf und ab und erholen sich langfristig fast immer. Doch bei mir setzte Panik ein. Das hart verdiente Geld schmolz vor meinen Augen dahin, und mit schwitzenden Fingern und stressrotem Kopf verkaufte ich meine Anteile, um den Verlust zu stoppen. Das war kurzsichtig. Was folgte, war ein Nervenzusammenbruch, von dem ich mich wochenlang nicht erholte. Mein ständiges Aktienchecken war zur Sucht geworden, also verordnete ich mir eine Auszeit.
Die Suche nach der raschen Befriedigung
Genau wie der Butterkauf im Supermarkt war mein Verhalten an der Börse völlig irrational. Dahinter steckte in Wirklichkeit die Angst vor dem Unwissen darüber, wie die Zukunft aussehen würde. Wie würden sich meine Investments morgen entwickeln? Würde sich ein Medizinstudium langfristig auszahlen? Würde ich es in meinem instabilen Elternhaus so lange aushalten? Das bezweifelte ich – und nabelte mich frühzeitig ab.
Diese Denkmuster lassen sich nicht ohne weiteres umpolen. „Wenn sich Menschen ungünstig verhalten, ist das keine Frage der Willenskraft“, sagt Jennifer Sheehy-Skeffington von der London School of Economics and Political Science. Die Sozialpsychologin hat in einem 2017 erschienenen Bericht untersucht, welche Faktoren Armutsdenken begünstigen. Sie sagt: „Armutsdenken und ungünstige Entscheidungen werden von den Lebensumständen beeinflusst und nicht umgekehrt.“
Man muss nicht bettelarm sein, um in Armutsdenken zu rutschen. Es reicht schon zu beobachten, dass man in der Nachbarschaft als Einziger im Urlaub nicht verreist. Oder dass man als Einziger eine Rostlaube fährt. Wie ich bei mir selbst merke, muss einem das nicht einmal aktiv auffallen. Denn als Kind bekam ich zwar mit, dass andere urlaubten und gute Autos hatten, doch es störte mich damals nicht.
Die Forschung zeigt auch: Lebt man zusätzlich in einer gefährlichen Gegend, nimmt das Gefühl der Ohnmacht dem eigenen Leben gegenüber zu. „Wer glaubt, keine Kontrolle über das eigene Leben zu haben, sucht von Natur aus eher die rasche Befriedigung“, sagt Sheehy-Skeffington. So wie die Kinder in der Karibik sofort zum Marshmallow griffen. „Das ergibt Sinn, wenn Sie ohnehin nicht wissen, was morgen sein wird.“
Mehr Geld – bessere Entscheidungen
Rauchen sei ein gutes Beispiel dafür. Mit dem Rauchen aufzuhören bedeute einigen Aufwand, sagt Sheehy-Skeffington. Schon das schrecke ab, wenn man ständig vom Alltag überfordert sei. Dazu kommt das Gefühl, eine der wenigen Freuden aufzugeben, über die man Kontrolle hat und die etwas Stress abbauen. „Wenn Sie dann noch in einer Gegend mit viel Armut wohnen, in der die Menschen ohnehin nicht alt werden, was motiviert Sie dann, das Rauchen aufzugeben?“, sagt die Sozialpsychologin.
Das Argument kommt mir bekannt vor. Wann immer ich meiner Mutter nahelegte, mit dem Rauchen aufzuhören, sagte sie: „Warum sollte ich? Ich habe sonst nichts im Leben!“ Meine Versuche scheiterten endgültig, als ich selbst ein paar Jahre lang zum Kettenraucher wurde. Was mir jetzt erst auffällt: Ich rauchte nur so lange, wie ich zu Hause in einer instabilen Situation lebte. Sobald ich meinen ersten Job und meine eigene Wohnung sicher hatte, drückte ich meine letzte Kippe aus.
Natürlich wusste ich schon vorher, dass Rauchen schädlich und teuer ist. Rational sprach alles dagegen, doch das hatte mich nicht daran gehindert. Mit Interventionen aus der Verhaltensökonomie wie Nudges, die Menschen in die richtige Richtung schubsen sollen, ist gegen solche Impulse kaum etwas auszurichten. Da stimmen Shafir, Hanson und Sheehy-Skeffington überein. Gegen Armut hilft nur eines: Geld. Erst wenn sich ihre Lebensumstände verbessern, treffen Menschen andere Entscheidungen.
Eine kürzlich erschienene Studie des Forschungsinstitutes OpenResearch unterstützt diese These zum Teil. Die Forschenden überwiesen 1000 US-Bürgern jeden Monat 1000 Dollar, über die sie frei verfügen konnten. In der Kontrollgruppe erhielten 2000 Personen jeweils nur 50 Dollar. Drei Jahre lang sammelte das Forschungsteam Daten dazu, wer wofür wie viel Geld ausgab. Die Probandinnen und Probanden aus der 1000-Dollar-Gruppe gaben mehr Geld für Essen und Transport aus. Sie gingen außerdem deutlich häufiger in Krankenhäuser – was in den Vereinigten Staaten für arme Menschen ein Luxus ist.
Das Zocken ist Vergangenheit
Doch nicht alle Probleme lösen sich mit einem bedingungslosen Grundeinkommen in Luft auf. Die Gesundheit der Probanden verbesserte sich nicht messbar, und auch ihr subjektives Wohlbefinden erhöhte sich trotz des Extrageldes nicht. Die Forschenden vermuten, dass die Auswahl der Teilnehmenden zu vage war, denn die Stichprobe enthielt Menschen mit sehr unterschiedlichen Bedürfnissen. Eine gezielte Intervention könnte möglicherweise einen besseren Nutzen erzielen. Beispielsweise könnten Schwangere aus armen Gegenden besonders von einer Finanzspritze profitieren.
Eine Finanzspritze bekam ich zwar nicht. Doch aufgrund meines guten Lohnes als Informatiker kehrte ein Gefühl von Ruhe und Sicherheit ein. Das macht sich heute auch in meinen Entscheidungen bemerkbar. Ich investiere wieder, aber jetzt besonnen. Das Zocken ist Vergangenheit. Nach und nach wagte ich es, vom Programmieren zum Schreiben zu wechseln, einem im Schnitt deutlich schlechter bezahlten Beruf. Das Armutsdenken von damals habe ich aber nicht verlernt. Wie sich zeigt, ist das gut so.
Denn Anfang 2024 erkrankte ich an Long Covid. Als ich wochenlang keine Sätze formulieren konnte, war meine frühe Erfahrung mit Verzicht sehr von Nutzen, um nicht vollständig die Nerven zu verlieren. Meine Fähigkeit, jede Entscheidung als Tauschgeschäft zu sehen, ist jetzt Gold wert. Wegen meiner begrenzten Energie ist alles ein Kompromiss. Wenn ich koche, kann ich nicht einkaufen, sonst machen die Muskeln schlapp. Wenn ich schreibe, reicht die Energie nicht mehr für die Wäsche.
Ich muss bei all den kleinen ehemaligen Selbstverständlichkeiten entscheiden: Nehme ich das eine oder doch lieber das andere? Beides kann ich mir nicht leisten. Natürlich schmerzen diese erzwungenen Tauschgeschäfte. Doch dank meiner frühen Erfahrung mit Armut kann ich einigermaßen damit umgehen. Immerhin, vor dem Kühlregal im Supermarkt vergeude ich jetzt kaum noch Zeit.
Hat Ihnen dieser Artikel gefallen? Wir freuen uns über Ihr Feedback!
Haben Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Beitrag oder möchten Sie uns eine allgemeine Rückmeldung zu unserem Magazin geben? Dann schreiben Sie uns gerne eine Mail (an: redaktion@psychologie-heute.de).
Wir lesen jede Nachricht, bitten aber um Verständnis, dass wir nicht alle Zuschriften beantworten können.
Quellen
Sendhil Mullainathan, Eldar Shafir: Scarcity. Why having too little means so much. Allen Lane 2013
Jennifer Sheehy-Skeffington, Jessica Rea: How poverty affects people’s decision-making processes. London School of Economics and Political Science 2017
Open Research Lab: Unconditional cash study, key findings, 2024
Isabel María Rosa-Díaz: Price knowledge: effects of consumers’ attitudes towards prices, demographics, and socio-cultural characteristics. Journal of Product & Brand Management, 13/6, 2004, 406–428
Anandi Mani u.a.: Poverty impedes cognitive function. Science, 341, 2013, 976–980
Jamie L. Hanson u.a.: Impact of socioeconomic status on Amygdala and Hippocampus subdivisions in children and adolescents. Preprint, bioRxiv, 2023
Eldar Shafir, Sendhil Mullainathan: Scarcity: Why Having Little Means So Much. Times Books 2013
Walter Mischel u.a.: Cognitive and attentional mechanisms in delay of gratification. Journal of Personality and Social Psychology, 21.2, 1972, 204-218
Celeste Kidd u.a: Rational snacking: Young children’s decision-making on the marshmallow task is moderated by beliefs about environmental reliability. Cognition, 126.1, 2013, 109-114
Alexander W. Bartik u.a.: The impact of unconditional cash transfers on consumption and household balance sheets: Experimental evidence from two US States. NBER Working Paper No.32784, 2024