Digitale Hypomanie

Der von Karl Heinz Brisch herausgegebene Sammelband untersucht, inwieweit Onlinebeziehungen zu gestörten Bindungen führen können.

Ein Bücherstapel mit den Büchern, die in Ausgabe 7/2024 vorgestellt werden
Das ist der Bücherstapel der Rezesionen aus der Juliausgabe. © Psychologie Heute

Die Wucht, mit der digitale Angebote das Leben junger Menschen verändert haben, wurde der psychotherapeutischen Szene klar, seit junge Menschen, die an der Intensivnutzung von Social Media oder durch Gaming krank geworden sind, die Praxen aufsuchen.

Mein erster Fall dieser Art war ein junger Mann, der die ersten vier Semester seines Studiums verpasst hatte, weil er die Kontrolle über das Zocken verloren hatte. Eine junge Frau suchte psychotherapeutische Hilfe, nachdem sie von Gleichaltrigen auf Instagram fertiggemacht worden war. Ungeachtet dessen brachte sie es aber nicht fertig, sich dort abzumelden. Eine von mir supervidierte Psychotherapeutin in Ausbildung und ich rätselten, warum die Psychotherapie mit ihrer Patientin, einer Studentin, keine Fortschritte machte – bis wir endlich auf die Idee kamen, sie nach ihrer täglichen screen time zu fragen, die bei acht bis zehn Stunden lag. Die Patientin selbst hatte das Thema nicht erwähnt.

Die Wahrnehmung der Kolleginnen und Kollegen zu wecken und zu schärfen ist eines der Ziele des von Karl Heinz Brisch herausgegebenen Buches Gestörte Bindungen in digitalen Zeiten. Der Anspruch dieses ausgezeichneten Werkes geht darüber jedoch weit hinaus.

Die Magie, mit der das Internet, Social Media und Computerspiele Menschen zu bannen vermögen, beruht auf dem von ihnen ausgehenden Bindungsangebot: „Hier wirst du wahrgenommen, ich helfe dir, deine Sehnsüchte zu stillen und deine Ängste zu regulieren.“

Social Media und Gaming sind, wie Brisch in seinem eigenen Beitrag erhellend ausführt, Surrogate für (fehlende) gute Beziehungen. Sie ziehen vor allem jene Personen in ihren Bann, die in ihren jungen Jahren psychische Vernachlässigung erlebt haben und in sich kein sicheres Bindungsmuster entwickeln konnten. Es seien vor allem Menschen mit einem ängstlich-unsicheren Bindungsstil, die zu exzessiver Mediennutzung neigen, wie Christiane Eichenberg und Raphaela Schneider in ihrem auf eigenen Studien basierenden Beitrag schreiben. Die „Mediensucht“ erfülle eine „eskapistisch-sozialkompensatorische“ Funktion. Die besondere Anfälligkeit von ängstlich-unsicher gebundenen Menschen, dem Bildschirm zu verfallen, bestätigen auch Bert te Wildt und Jan Dieris-Hirche in ihrem Text.

Informativ und wertvoll sind eine Reihe weiterer, durchweg spannend zu lesender Beiträge des Werkes, die sich spezielleren Themen zuwenden: Beate Priewasser und Antonia Dinzinger erläutern Forschung, die zeigt, wie sehr Babys und Kleinkinder gestresst werden und Entwicklungsnachteile erleiden, wenn sich die Bezugspersonen im Kontakt mit einem Kind immer wieder unvermittelt durch das Smartphone ablenken lassen.

Julia von Weilers Abhandlung widmet sich den vielfältigen Formen von Kriminalität im Netz, denen junge Menschen ausgesetzt sind, vor allem der „Sharegewaltigung“ (Verbreitung intimer Bilder durch Peers) und dem „Cybergrooming“ (Anmache durch Erwachsene). Maria Steinhoff und Harald Baumeister geben eine wertvolle Übersicht über verschiedene Varianten digitaler Psychotherapie inklusive therapeutischer Chatbots, die – auch dann wenn der Chatbot sich selbst als Maschine offenbart – personifiziert und als Objekte einer therapeutischen Allianz erlebt werden.

Besonders hilfreich sind die bei Jan van Loh, bei Eichenberg und Schneider sowie bei Brisch zu findenden Hinweise zum psychotherapeutischen Vorgehen. Gefragt ist zunächst eine proaktive Medien-Anamnese.

Therapeutisch geht es darum, eine tragende Beziehung aufzubauen, traumatische frühe Bindungserfahrungen – wie etwa die, abgeschoben worden zu sein – aufzuarbeiten und herauszufinden, welche Funktion dem digitalen Nutzungsverhalten zugrunde liegt (zum Beispiel Eskapismus oder soziale Kompensation).

In einer Zeit, in der viele es als fortschrittsfeindlich oder als Ausdruck deutscher Angst denunzieren, innezuhalten und die Folgen der digitalen Hypomanie zu reflektieren, kommt dieses fundierte und lesenswerte Werk genau richtig.

Karl Heinz Brisch (Hg.): Gestörte Bindungen in digitalen Zeiten. Ursachen, Prävention, Beratung und Therapie. Klett-Cotta 2023, 304 S., € 40,–

Prof. Dr. med. Joachim Bauer ist Internist, Psychiater, Psychotherapeut und Sachbuchautor. Zuletzt erschien Realitätsverlust. Wie KI und virtuelle Welten von uns Besitz ergreifen und die Menschlichkeit bedrohen (Heyne 2023)

Artikel zum Thema
Sex und Liebe mit der KI: Warum entwickeln wir Gefühle für einen Chatbot? Ab wann wir uns vor der eigenen Verliebtheit zur Maschine schützen sollten
Die ersten drei Lebensjahre sind entscheidend, sagen Bindungsforscher. Sie beeinflussen, wie wir Beziehungen gestalten – und wie gesund wir sind.
Soziale Kontakte sind etwas Schönes. Doch mit manchen Menschen gestaltet sich der Umgang immer wieder schwierig. Wen empfinden wir als besonders anstrengend?
Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 7/2024: Die Straße der guten Gewohnheiten
Anzeige
Psychologie Heute Compact 79: Das Leben aufräumen