Diktator im Gehirn

Freier Wille? Gibt’s nicht, sagt Robert M. Sapolsky. Demzufolge sind wir biologische Maschinen – und damit auch schuldlos an Verbrechen.

Ein Bücherstapel mit den Büchern, die in Ausgabe 6/2024 vorgestellt werden
Das ist der Bücherstapel der Rezesionen aus der Juniausgabe 2024. © Psychologie Heute

Fangen wir an mit dem Spaß: Robert Sapolsky, Biologe von Beruf, ist ein vorzüglicher Anwalt seiner Thesen. Auch in seinem neuen Buch Determined. Life without Free Will. Er vergisst nie, dass ein gutes Buch unterhalten muss. Immer wieder bringt der Autor lässig erzählte Geschichten und verblüffende Fakten – etwa von einem Menschen, der 1945 erst in Hiroshima und dann in Nagasaki beide Atombomben (lang) überlebte. Kurzum: In der B-Note für den künstlerischen Wert ist dieses Buch so gut, dass man seinem Autor alles abnehmen möchte.

Das indes sollte man lieber lassen, denn selbst der beste Erzähler kann erstaunlich danebenliegen. Und damit wird es ernst. Denn Sapolskys Botschaft ist so ernüchternd wie krude: Der Mensch sei nichts weiter als eine, ja, roboterartige Marionette, eine Maschine. Alles, wirklich alles, was ein Homo sapiens denkt, fühlt und anstellt, sei vorbestimmt durch seine Gene, durch das, was er selbst erlebt hat, überdies durch Kultur und Geschichte, durch das Universum und so weiter.

Dadurch entstehe im Gehirn eine individuelle molekulare, biochemische, neuronale Gemengelage, die gleich einem Diktator in jeder Sekunde des menschlichen Lebens alles Handeln determiniere, im Guten wie im Bösen, ohne dass wir das durch „von innen“ kommendes, bewusstes motiviertes Reflektieren oder was auch immer ändern könnten. Freier Wille: adios, tschüss und goodbye!

Keine Moral als beste Moral

Allein die Diktatur des neuronalen Kosmos entscheide darüber, wie man handelt. Als Opfer ihrer Bestimmung infolge unabänderlicher Naturgesetze seien alle Menschen per se moralisch unschuldig. Die Conclusio all dessen für den Autor: „So etwas wie Schuld kann es nicht geben, Strafe ist als Vergeltung nicht zu rechtfertigen.“ Und wei­ter: „Niemand hat es verdient oder hat ein Recht darauf, besser oder schlechter als jemand anderes behandelt zu werden.“

Gewöhnliche menschliche Gefühle – Missgunst und Dankbarkeit, Liebe und Hass – seien im Kern überflüssig: „Es macht genauso wenig Sinn, jemanden zu hassen, wie einen Tornado zu hassen, weil er angeblich beschlossen hat, dein Haus zu zerstören.“ Konsequenz daraus: Der Strafjustiz solle es nicht um Vergeltung gehen, da niemand an irgendetwas schuld sei. Kurzum: keine Moral als beste Moral.

Gleich zu Beginn verkündet der Autor, dass nicht eine einzelne bahnbrechende Forschungsarbeit die Non-Existenz des freien Willens beweise. Das könne nur die gebündelte Erkenntnis aus allen Disziplinen der Forschung – von der Atomphysik bis zur Sozialforschung –, die „gemeinsam den freien Willen verneinen, weil sie alle miteinander verbunden sind“. Dezidiert interpretiert Sapolsky also den wissenschaftlichen Kanon.

Nur ein Beispiel: Wir können die Bedingungen der ersten neun Monate unserer Existenz nicht kontrollieren. „Viele Glukokortikoide der Mutter marinieren das Gehirn des Fötus dank des mütterlichen Stresses, und das führt zu einer erhöhten Anfälligkeit für Depressionen und Angstzustände im Erwachsenenalter“, schreibt er. Sie dachten, Ihre gescheiterte Ehe sei schuld an Ihrer Depression? Nichts als eine G’schicht…

Mehr Aggression, weniger Hilfsbereitschaft

Nun ist es so, dass laut einer Umfrage auch die meisten Philosophinnen und Philosophen durchaus bejahen, dass das Gehirn deterministisch geprägt ist. Trotzdem sei der Determinismus mit Freiheit im Denken und Handeln vereinbar und damit auch mit moralischer Verantwortung. Abgesehen davon ist nach Meinung von Hirnforscherinnen und -forschern die neuronale Aktivität des Gehirns zu variabel, um alle unsere Handlungen als vorbestimmt zu betrachten: Identischer Input führt oft zu nichtidentischen Ergebnissen – auch wenn die Zahl der Muster im Verhaltensrepertoire begrenzt ist.

Last not least bleibt es keine gute Idee, den Menschen als deterministische Maschine zu betrachten: Den Glauben an den freien Willen zu verlieren wäre gefährlich und unverantwortlich. Eine Studie ergab etwa, dass Menschen, die Passagen lasen, in denen die Idee des freien Willens verworfen wurde, eher bereit waren, bei einem anschließenden Test zu schummeln. Andere Studien haben ergeben, dass Menschen, die das Gefühl haben, weniger Kontrolle über ihre Handlungen zu haben, sich weniger darum sorgen, bei ihrer Arbeit Fehler zu machen, und dass die Verneinung des freien Willens zu mehr Aggression und weniger Hilfsbereitschaft führt.

Robert M. Sapolsky: Determined. A Science of Life without Free Will. Penguin Press 2023, 528 S., etwa € 32,–

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 6/2024: Im Erzählen finde ich mich selbst
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